97 Leben abtransportiert

WAZ Gelsenkirchen, 17.Februar 2008, Von Tobias Mühlenschulte:

Durch Deutschland fährt ein Zug und sucht nach den Spuren von Kindern und Jugendlichen, die während des NS-Regimes deportiert wurden. In Gelsenkirchen waren es an die 100. Veranstalter erheben Vorwürfe

Es ist eng. Eng und bedrückend. Kein Lichtstrahl dringt von draußen in die alten, muffigen Eisenbahnwaggons. Die Fenster sind abgeklebt. In den schmalen Gängen drängen sich die Menschen dicht an dicht, schieben sich schweigend vorwärts. In ihren Gesichtern: Anteilnahme, Entsetzen, Trauer, Wut.

Der „Zug der Erinnerung“ rollte am Sonntagvormittag im Gelsenkirchener Hauptbahnhof ein und macht bis heute um 19 Uhr Station an Gleis 8. Und er erinnert an Züge, die besser nie gefahren wären. Zwischen Oktober 1940 und Dezember 1944 deportierten die NS-Behörden mehrere hundertausend Kinder. Auch aus Gelsenkirchen wurden Kinder und Jugendliche nach Auschwitz verschleppt.

In den Waggons erinnern zahlreiche Fotos und detailliert dokumentierte Einzelschicksale an den Nazi-Terror, der auch vor den ganz Kleinen nicht halt machte. Eine Tafel zeigt zum Beispiel eine Szene aus dem Rassenlehre-Unterricht, eine andere das „Juden raus“-Spiel, eine perfide Mensch-ärgere-Dich-nicht-Variante. Daneben hängt eine Abbildung des damaligen Schienennetzes mit den Deportationsstrecken. Ein anderes Zugabteil widmet sich den Tätern. Im nächsten Waggon sind die Ergebnisse der Spurensuche in Bochum ausgestellt. Zahlreiche Schulklassen hatten Schicksale in ihrer Heimatstadt recherchiert.

Laut dem veranstaltenden, gleichnamigen Verein „Zug der Erinnerung“ verließen 1942 mehrere Bahntransporte mit zusammen mindestens 93 Kindern und Jugendlichen die Stadt in Richtung Osten. Andreas Jordan vom Gelsenzentrum (Privates Internetportal für Stadt- und Zeitgeschichte) zählte bei seinen Recherchen gar 97 deportierte junge Juden.

Und als wäre die ganze Angelegenheit noch nicht traurig genug, erheben der Verein und Andreas Jordan schwere Vorwürfe an die Adresse der Stadt. „Vor einem Dreivierteljahr haben wir um Beteiligung gebeten. Die wurde abgelehnt mit der Begründung: ,Wir haben genug getan‘. Das ist eine bedauerliche Haltung“, gibt sich der Vereinsvorsitzende Hans-Rüdiger Minow enttäuscht. Alle anderen bisher angefahrenen Städte (Mannheim, Karlsruhe, Stuttgart u.v.a.) hätten die Hälfte der entstehenden Kosten, 4000 Euro pro Tag, gedeckt. Für die andere Hälfte kommt der Verein mit Spendengeldern auf.

Aber nicht nur finanziell sei dem Zug die Unterstützung verweigert worden. „Ich habe in einer Woche das gemacht, was die Stadt hätte tun sollen“, umschreibt Andreas Jordan seine organisatorischen Bemühungen.

Und auch auf die Deutsche Bahn ist der „Zug der Erinnerung“ nicht gut zu sprechen. „Wir werden behandelt wie jeder Schrottzug“, bedauert Tatjana Engel vom Vereinsvorstand die finanziellen Forderungen des Schienennetzbetreibers. Kein Rabatt, keine Ermäßigung – der volle Preis sei zu entrichten. Eine Stunde Aufenthalt koste alleine schon 45 Euro. Zu entrichten an den Nachfolger der Reichsbahn.

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