Die Frage nach der persönlichen Verantwortung

WAZ Gelsenkirchen schreibt am 7. Mai 2008:

DER NATIONALSOZIALISMUS UND DIE FRAGE NACH DER PERSÖNLICHEN VERANTWORTUNG

Zum Beispiel: Paul Schossier
Bei der Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ gibt es noch immer viele Lücken und offene Fragen. ISG betont intensive Beschäftigung mit der NS-Geschichte. Ergänzungen statt Umbenennungen

Im Juni wird sich Prof. Stefan Goch vom Institut für Stadtgeschichte (ISG) auf den Weg nach Berlin machen, um Nachforschungen in NSDAP-Archiven anzustellen. Im Gepäck: eine Liste mit rund 60 Namen von Gelsenkirchenern, über deren Rolle in der Nazi-Zeit noch immer nicht letzte Klarheit besteht.

Ob ein spektaktulärer Fall dabei sein wird, glaubt der Wissenschaftler eher nicht. Und zu der Frage, ob es anschließend möglicherweise zu Umbenennungen von Straßen, Plätzen oder Gebäuden kommen könnte, will sich Goch unter Verweis auf die Untersuchungen und die Zuständigkeit der Politik nicht äußern: „Wir werden dem Rat nach der Sommerpause einen Beschlussvorschlag machen.“ Nicht auf der Liste, weil bekannt und aktenkundig ist der Fall von Paul Schossier. Das Internet-Portal Gelsenkirchener Geschichten hat jüngst eine Diskussion über die Rolle des vor 1933 und auch während der gesamten NS-Zeit amtierenden städtischen Dezernenten losgetreten. Die Forderung nach Umbenennung des Paul-Schossier-Wegs in Hassel wurde ebenso laut wie der mahnende Appell, bei der Auswertung der Quellen zu differenzieren und Sorgfalt walten zu lassen. An der Debatte beteiligten sich auch Nachfahren des Dezernenten.

Dass die Rolle Paul Schossiers im NS-Terrorregime erst jetzt ein öffentliches Thema wird, überrascht. Bereits 1999 hat Goch ein Buch geschrieben über die Deportation von Sinti und Roma aus Gelsenkirchen. Darin stellt er fest, dass Schossier als zuständiger Dezernent und andere Verantwortliche bei ihrer Besiegelung des Abtransports mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ gewusst hätten, dass die Deportierten umgebracht werden.
Ist Schossier tragbar als Namensgeber für eine Straße? Auch dazu hält sich Goch bedeckt. Jeder Einzelfall sei gesondert zu betrachten, sagt er. Und: Grundsätzlich halte er nicht viel von Umbenennungen. „Wo zieht man da die Grenzen?“ Es sei aus seiner Sicht sinnvoller, im jeweiligen Kontext Ergänzungen vorzunehmen – zum Beispiel durch Tafeln am Straßenschild.

Dass es in Gelsenkirchen auch 63 Jahre nach dem Sieg über Nazi-Deutschland viele offene Fragen gebe, sei kein Versäumnis, so Goch, sondern auf Veränderungen in der Erinnerungskultur zurückzuführen. Die Stadt sei aktiver und „selbstkritischer“ geworden.
Kritik an einer zu passiven oder gar verschleiernden Rolle des ISG, wie sie bisweilen laut wird, weist Goch zurück. Gelsenkirchen brauche sich nicht zu verstecken: „Es gibt wenig Städte, die sich so intensiv mit ihrer NS-Geschichte auseinandergesetzt haben.“ loc

Kommentar von Lars-Oliver Christoph in der WAZ Gelsenkirchen vom 7. Mai 2008:

Erschreckend

Welche Rolle spielten Gelsenkirchener wie Hubert Nietsch oder Paul Schossier, spielten Institutionen wie der Halfmannshof inder NS-Zeit? Eine definitive Antwort kann es nicht geben. Es kann nur um eine Annäherung gehen, um die Frage nach dem Umgang mit der persönlichen Verantwortung, um das Ringen um Positionen.

Umso erschreckender, wie ignorant sich der Halfmannshof nach außen gibt, wie sehr man sich der Verantwortung entzieht. Dass die kritische Auseinandersetzung mit negativen Seiten der eigenen Vergangenheit sogar honoriert wird, hat der FC Schalke 04 nach anfänglichen Problemen gezeigt. Stichwort: Szepan.

Auch die Gelsenkirchener Geschichten sind ein Indiz dafür, wie fruchtbar das direkte Wort, die offene Diskussion sein kann. Man muss nicht alles gut finden, was in den GG-Foren geäußert wird. Aber man muss anerkennen, dass hier Meinungen aufeinandertreffen, dass um Standpunkte gekämpft wird – auch wenn nicht alles zielführend ist und ja gar nicht sein kann.

Schließlich: Die Verdienste des Instituts für Stadtgeschichte sind unbestritten. Vieles kann sich sehen lassen. Man würde sich aber bisweilen wünschen, dass das ISG eine aktivere gesellschaftliche Rolle einnimmt, Diskussionen anstößt und den Finger in die Wunde legt.
Ein solches Institut darf weder zum Anhängsel der Verwaltung werden noch sich in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm zurückziehen.

Dieser Beitrag wurde unter Stadtgeschichte Gelsenkirchen veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar