Gelsenkirchen: 80 Jahre Riga-Deportation

2022 jährt sich die Deportation jüdischer Menschen von Gelsenkirchen nach Riga in Lettland, damals ein Teil des „Reichskommissariats Ostland“, zum 80. Mal. Am 27. Januar 1942 rollte der erste „Sammeltransport“ mit jüdischen Kindern, Frauen und Männern von Gelsenkirchen Richtung Osten. Bestimmungsort der Menschenfracht war das Ghetto Riga. Etwa 420 jüdische Menschen – davon rund 340 aus Gelsenkirchen – wurden zunächst in die zum temporären „Sammellager“ umfunktionierten Ausstellungshalle am Wilden- bruchplatz unter unmensch-lichen Bedingungen eingepfercht. Auch Juden aus umlie- genden Revierstädten wie bspw. Recklinghausen wurden eigens für diese Deportation nach Gelsenkirchen transportiert.

Auf dem Weg nach Riga wurden weitere Menschen an verschiedenen Haltepunkten – u.a. in Dortmund und Hannover – in den Zug gezwungen. Der Deportationszug der Deutschen Reichsbahn erreichte schließlich mit etwa 1000 Menschen am 1. Februar 1942 Riga in Lettland. Der überwiegende Teil der aus Gelsenkirchen und anderen Städten am 27. Januar verschleppten Juden wurden in der Folgezeit im Ghetto Riga oder in Konzentrationslagern ermordet. Zu den wenigen, die oftmals als Einzige ihrer Familien den Holocaust überlebt haben, gehört auch der im damaligen Horst-Emscher geborene Herman Neudorf.

Der in Gelsenkirchen-Horst geborene Herman Neudorf lebt heute in den USA

Der 96jährige Herman Neudorf, heute in den USA lebend, erinnert sich:

„Am 20. Dezember 1941 erhielten wir von der Gestapo, Staatspolizeistelle Gelsenkirchen, die erste Aufforderung: „Sie haben sich auf einen Transport zum Arbeitseinsatz nach dem Osten vorzubereiten. An Gepäck darf 10 Reichsmark mitgenommen werden. Die Fahrtkosten sind selbst zu entrichten“ – natürlich einfache Fahrt, eine Rückfahrt war ja nicht vorgesehen. Vorbereitungen wurden von Seiten der zur Deportation bestimmten jüdischen Einwohnern Gelsenkirchens getroffen. Medikamente, Winterkleidung, warme Decken und so weiter beschafft. Am 20. Januar 1942 kommt wieder ein Schreiben: „Sie haben sich zum Transport nach dem Osten in den nächsten drei Tagen bereitzuhalten.“ Nun war es also soweit.

An einem Januarmorgen um 10 Uhr morgens wurden wir dann von der Gestapo aus dem sogenannten „Judenhaus“ an der Markenstraße in Horst abgeholt und in einen Autobus verfrachtet, mit je einem Koffer. In Handumdrehen sammelte sich um den Bus eine Anzahl Schulkinder. Auf ihre neugierige Frage, wohin wir fahren, antwortete der Gestapo-Chauffeur: „Zur Erholung in ein Sanatorium.“ Am Wildenbruchplatz schliefen wir eine Nacht wie Tiere in Stroh am Boden. Frühmorgens am folgenden Tag wurden wir verladen. Es war der 27. Januar 1942. Aber diese Mörder wussten zu gut, wohin unsere Fahrt führen sollte. Hoher Schnee mit ca. 25 Grad Kälte. Ein Personenzug stand am Güterbahnhof Gelsenkirchen für uns bereit. Ungeheizt. Am Ende des Zuges wurden drei Wagen mit unseren Koffern, Verpflegung und Küchengeräten angehängt. Dann fuhren wir ab. Türen natürlich abgeschlossen. Vor Hannover erfuhren wir, daß die letzten Wagen angeblich „heißgelaufen“ waren und abgehängt werden mussten. Nun besaßen wir nur noch das, was wir am Leibe trugen. es war eine lange Fahrt durch Ostpreußen, Litauen, Lettland. Aborte verstopft, die Abteilwände mit einer Eisschicht überzogen.

Am 1. Februar erreichten wir unsere neue „Heimat“, der Transport hielt am Bahnhof Skirotava im südlichen Teil der Stadt Riga. Auf uns warteten schon SS-Leute in dicken Pelzmänteln. Sie trieben uns mit Schlägen, Beschimpfungen und Gebrüll aus dem Zug. Die Glieder waren noch starr vor Kälte. Zum Teil mit LKW oder zu Fuß ging es ab. Ungefähr drei Stunden Marsch. Lettische Wachen hüteten uns sorgfältig und rissen einigen gute Kleidungsstücke vom Leibe herunter. Ein mit Stacheldraht umgebener Stadtteil tauchte auf. Personen mit gelben „Judensternen“ konnte ich erkennen. Das war also das Rigaer Ghetto, das uns allen ewig in Erinnerung bleiben sollte. Oft wundert man sich selbst, dass man diese schrecklichen Jahre, die noch folgen sollten, überhaupt überleben konnte.“ Hermann Neudorf erlebte seine Befreiung im April 1945 auf einem Todesmarsch aus dem KZ Buchenwald in Richtung KZ Dachau. Lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Herman Neudorf: Das war Riga…

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