Zeitzeugin: „Die waren auf einmal weg …“

Stolpersteinverlegung: Jeder Stolperstein ein Leben


Geksenkirchen. Die „soziale Skulptur“ Stolpersteine wächst beständig. Rund 54.000 bisher verlegte Stolpersteine in 19 Ländern Europas bilden zusammen genommen das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Am Freitag kam Bildhauer Gunter Demnig einmal mehr nach Gelsenkirchen, um hier weitere 20 seiner Stolpersteine zu verlegen. Auch aus unserem Stadtbild sind die mittlerweile 139 Stolpersteine vor den letzten Wohnorten von Menschen, die den Nazis zum Opfer fielen, nicht mehr wegzudenken.

Stolpersteine erinnern an Menschen aus allen Verfolgtengruppen gleichermaßen. Genau dort, wo die Menschen einst lebten, wo sie gewohnt, gelebt, geglaubt, getanzt, geträumt, gelacht und geweint haben, bevor sie dem Rassenwahn und Überlegenheitsideologie der Nazis zum Opfer fielen – vor den Türen ihrer Wohnhäuser oder Wirkungsstätte. Die allermeisten Lebens- und Leidensgeschichten der NS-verfolgten Menschen endeten mit deren Ermordung.

Jeder Stolperstein ein Leben

Jeder Stolperstein ein Leben

In vielen Fällen haben Eltern noch versucht, wenigstens ihre Kinder über die so genannten „Kindertransporte“ ins Ausland zu retten. Ernst Alexander konnte so in Sicherheit gebracht werden, eine jüdische Familie in Nebraska/USA nahm den Jungen auf. Manche der Verfolgten gelang eine Flucht in Länder wie Holland, wurden jedoch dort schon bald nach der Besetzung durch Nazi-Deutschland von der Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie eingeholt. Ernsts Schwester Dorothea Julia Alexander floh nach Holland, wurde verhaftet, interniert und schließlich in Auschwitz ermordet. Ihre Schwester Margot konnte in Holland versteckt überleben. Mutter Frieda wurde von Gelsenkirchen nach Riga verschleppt und dort bei einer der Mordaktionen erschossen. Verlegt wurden die Stolpersteine für Familie Alexander an der Ringstraße 67.

Werner Goldschmidts Schwester Else gelang 1937 die Flucht in die USA. Werner, der sich bereits vor der Machtübergabe dem Widerstand gegen die Nazis angeschlossen hatte, wurde 1935 verhaftet und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“, wie es die NS-Unrechtsjustiz den Widerstand gegen das Gewaltregime nannte, zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt. Kurz vor Verbüßung der „Strafe“ wurde Werner Goldschmidt nach Haft in Münster und Herford am 19. Dezember 1941 aus dem Zuchthaus Siegburg in das Gelsenkirchener Polizeigefängnis überstellt. Seine Eltern Moritz und Hedwig Goldschmidt, die Gelsenkirchen nicht ohne ihren Sohn hatten verlassen wollen, wurden gemeinsam mit Werner in das Ghetto Riga Riga deportiert. Dort starb Moritz Goldschmidt an Typhus. Hedwig Goldschmidt wurde bei der Auflösung des Ghettos Riga ermordet. Der von der SS als „noch arbeitsfähig“ eingestufte Werner Goldschmidt wurde bei der Ghetto-Auflösung ins KZ Kaiserwald und bei dessen Auflösung weiter in das KZ Stutthof bei Danzig und von dort in das KZ Buchenwald bei Weimar verschleppt.

Im September 1944 wurde er weiter in ein Außenlager von Buchenwald beim Bochumer Verein transportiert, dort musste er Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion verrichten. Im März 1945 wurde das Außenlager in Bochum aufglöst und die Häftlinge wieder zurück nach Buchenwald transportiert. Werner Goldschmidt wurde am 11. April 1945 in Buchenwald befreit und kehrte im Mai 1945 zunächst nach Gelsenkirchen zurück. Hier heiratet ier im August 1946 Charlotte Perl. Die aus Sighet/Rumänien stammende Charlotte Perl war aus ihrer Heimat zunächst nach Auschwitz deportiert und von dort mit 2000 anderen Jüdinnen weiter nach Gelsenkirchen in ein Außenlager des KZ Buchenwald bei der Gelsenberg Benzin AG verschleppt worden. Das Ehepaar verließ Gelsenkirchen und wanderte mit der Hilfe von Werner Goldschmidts Schwester Else im August 1947 in die USA aus. Familie Goldschmidt wurde mit der Verlegung von vier Stolpersteinen an der Augustastr. 4 für Moritz, Hedwig, Else und Werner im Gedenken symbolisch wieder vereint.

So lange es noch möglich war, bot die Flucht beispielsweise in die USA oder nach Großbritannien oftmals die einzige Möglichkeit, um zu überleben. Viele Länder weigerten sich jedoch, die meist jüdischen Flüchtlinge unkompliziert aufzunehmen. Nach Kriegsbeginn war eine Flucht dann kaum noch möglich. Erst im Frühjahr 1939, buchstäblich in letzter Minute, entschloss sich der Gemeinderabbiner Dr. Siegfried Galliner nach 25jähriger Berufsarbeit im Dienste des Judentums angesichts des zerstörten Jüdisches Lebens mit seinen kulturellen und religiösen Infrastrukturen zur Flucht nach England. Am Platz der alten Synagoge/Georgstr. 2, an einer der Stätten seines vielfältigen Wirkens, erinnert nun ein Stolperstein an eine großartige Persönlichkeit des jüdischen Lebens in Gelsenkirchen.

Dr. Siegfried Galliner war der letzte amtierende Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, bevor mit der gewaltsamen Zerstörung der Synagoge und des Gemeindehauses in der Altstadt, der Synagoge in Buer und des Betsaales in Horst in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Jüdische Gemeindeleben in Gelsenkirchen endete.

Dr. Siegfried Galliner war der letzte amtierende Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, bevor mit der gewaltsamen Zerstörung der Synagoge und des Gemeindehauses in der Altstadt, der Synagoge in Buer und des Betsaales in Horst in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Jüdische Gemeindeleben in Gelsenkirchen endete.

Familie Jeckel konnte nicht fliehen. Der Fuhrunternehmer Markus Jeckel, seine Frau Cilla und Sohn Isidor wurden von der Verhaftungswelle im Zuge der so genannten „Polenaktion“ völlig überrascht. Im Oktober 1938 wurde die Familie verhaftet und nach Bentschen/Polen abgeschoben. Seither fehlt von ihnen jedes weitere Lebenszeichen. Mit der Verlegung der Stolpersteine an der Hauptstraße 63 kehrten ihre Namen zurück an den Ort, an dem sie lebten und an dem sie ihre Heimat hatten.

Bis zu ihrer Deportation am 27. Januar 1942 nach Riga lebten Hugo Broch und seine Frau Theresa an der Von-Der-Recke-Straße 11 in der Gelsenkirchener Altstadt. Dort erinnern jetzt Stolpersteine an Familie Broch. Hugo Broch hatte sein Möbelgeschäft bereits 1936 zwangsweise an den „arischen“ Möbelhändler Albert Heiland „verkauft“. Das Leben des Ehepaars Broch endete mit ihrem gewaltsamen Tod bei Auflösung des Ghettos Riga, Sohn Josefs Spuren verlieren sich im Ghetto Zamosc.

Auch die Familie Höchster konnte der Mordmaschinerie der Nazis nicht entkommen. Familienvater Bernhard starb 1938, Max, Therese und Klara Höchster wurden von Gelsenkirchen in das Ghetto Riga deportiert. Klara Höchster, die in den Augen der SS als „nicht mehr arbeitsfähig“ galt, sie war zu diesem Zeitpunkt bereits 68 Jahre alt, wurde bei einer Mordaktionen im März 1942 in Riga ermordet. Max und Therese Höchster wurde nach Auflösung des Ghettos Riga in das KZ Kaiserwald in Riga überstellt. Dort wurde Therese Höchster im Juli 1944 ermordet. Max wurde dann im Herbst 1944 in das KZ Stutthof bei Danzig verschleppt. Mit einem der berüchtigten Todesmärsche kam auch Max Höchster im Februar 1945 in ein so genanntes „Auffanglager“ bei Rybno (Rieben). Noch vor der Befreiung des Lagers am 10. März 1945 ist Max Höchster dort umgekommen, die genauen Umstände seines Todes sind nicht mehr feststellbar. Vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Höchster an der Feldmarkstraße 119 verlegte Gunter Demnig die Stolpersteine, die daran erinnern das dort einmal Menschen wohnten, die vom NS-Regime ermordet worden sind – nur weil Sie Angehörige der jüdischen Religion waren. Eine Zeitzeugin erinnerte sich an die Familie Höchster: „Nette, freundliche und hilfsbereite Menschen waren das. Die waren auf einmal weg …“

Erneut holen Ernst Papies die Qualen und das begangene Unrecht der Vergangenheit ein, als er in den 70er Jahren einen Rentenantrag stellt: die KZ-Internierungszeit wird nicht für die Rentenberechnung anerkannt.

Erneut holen Ernst Papies die Qualen und das begangene Unrecht der Vergangenheit ein, als er in den 70er Jahren einen Rentenantrag stellt: die KZ-Internierungszeit wird nicht für die Rentenberechnung anerkannt.

Begonnen hatte die diesjährige Stolpersteinverlegung bereits am Morgen in Erle. An der Cranger Straße verlegte Gunter Demnig einen Stolperstein für den als homosexuellen Mann verfolgten Ernst Papies. Die Nazis verschärften ab 1933 díe Verfolgung schwuler Männer. Ernst Papies wurde von der NS-Unrechtsjustiz vor diesem Hintergrund 1934 zu einem Jahr Gefängnis verutteilt. 1936 folgte eine weitere Verurteilung zu 3 Jahren Gefängnis, die jedoch im Moorlager Papenburg (Emsland) vollstreckt wurde. Papies mußte dort bis zum Tag der Entassung schwerste Zwangsarbeit leisten. Als kranker Mann kam er nach Buer zurück. Ohne jedwede Begründung verhaftete ihn die Kripo in Buer 1939 jedoch erneut und deportierte den damals 30jährigen, misshandelt und gefoltert, im Juli 1939 in das KZ Buchenwald, wo er als so genannter „Berufsverbrecher“ und als „175er“ stigmatisiert unter mörderischen Bedingungen schuften musste.

Papies wurde im April 1940 weiter in das KZ Mauthausen (Österreich) deportiert. In einem Arbeitskommando so genannter „Rosa Winkel-Häftlinge“ wurde er im Steinbruch wiederum zu schwerster körperlicher Arbeit gezwungen. Er litt unter den Schikanen, der Willkür der SS-Wachmannschaften und war ständig mit einem gewaltsamen Tod bedroht. Im Dezember 1944 wurde Ernst Papies mit über 1000 weiteren Leidensgenossen in ein Außenlager des KZ Auschwitz deportiert. Kurz vor der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz Ende Januar 1945 erfolgte der Rücktransport nach Mauthausen. Weitere Monate der schwersten Zwangsarbeit folgten.

Befreit wurde Ernst Papies schließlich am 5. Mai 1945 durch amerikanische Soldaten aus dem KZ Mauthausen. Jedoch erst 4 Monate später konnte er, halbwegs ernährt, als kranker Mann die weite, mehrmonatige Reise nach Buer zu den Eltern antreten. Ernst Papies hatte die Hölle der Lager überlebt. Die Zeit der Verfolgung fand jedoch kein Ende. Denn nun begann sein Kampf um Anerkennung des erlittenen Unrechts, der Kampf um die so genannte „Wiedergutmachung“, der 30 Jahre andauern sollte. Vergeblich. Ernst Papies starb 1997 in Konstanz im Alter von 88 Jahren. Eine irgendwie geartete Entschädigung für die erlittenen Schäden an Leib und Seele hat er nie erhalten. Auch daran erinnert der Stolperstein an der Cranger Straße 398.

Das Projekt Stolpersteine in Gelsenkirchen wird fortgesetzt, die nächste Verlegung ist im Oktober 2016 geplant. Interessierte finden weitere Informationen, beispielsweise zur Übernahme einer Patenschaft für einen oder mehrere Stolpersteine auf der Webseite des Projektes.

Andreas Jordan

Presse- und Medienspiegel Stolpersteinverlegungen 2015 in Gelsenkirchen

Lokalpresse WAZ: Ernst Papies: erst verfolgt, dann vergessen

Blog Antifaschistisches Gelsenkirchen:
… wo sie gewohnt, gelebt, geglaubt, getanzt, geträumt, gelacht und geweint haben …

Fotos von Sven Kaiser: Stolpersteine

Fotos von Irina Neszeri: Zum Gedenken an Moritz, Hedwig, Werner und Else Goldschmidt.

Gelsenkirchen Blog: Neuwald-Tasbachs Kritik am Projekt „Stolpersteine“ ist unverschämt.

Lokalpresse WAZ: Künstler verlegt wieder Stolpersteine

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