Anfang und Ende einer Odysee

Die „Polenaktion“ am 28. Oktober 1938

Mehr als 80 jüdische Bürger werden an diesem Tag in Gelsenkirchen festgenommen, deutschlandweit über 18.000 Menschen, und zur polnischen Grenze verschleppt. Diese Diskriminierungsmaßnahme des NS-Terrorregimes gegenüber den in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden stellte einen ersten Höhepunkt der physischen Verfolgung dar und war der eigentliche Auftakt zur nachfolgenden, fast vollständigen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden im Holocaust. Vor dem Hintergrund der kurze Zeit später folgenden antijüdischen Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 (so genannte „Reichskristallnacht“) sind die Vorgänge um diese bis heute größte Ausweisungsaktion in der deutschen Geschichte fast völlig in Vergessenheit geraten.

Mit der Abschiebung von Gelsenkirchen nach Zbaszyn (Bentschen) vor 72 Jahren begann Herman Neudorfs Odysee durch die Vernichtungslager und Ghettos der Nazis. Herman war 13 Jahre alt, als sein Leidensweg begann. Dieser Weg endete erst sieben Jahre später, als er im April 1945 auf einem der Todesmärsche bei der Auflösung des KZ Buchenwald von amerikanischen Soldaten befreit wurde. Herman Neudorf hat seine Gedanken zu diesen Tag, den 28. Oktober 1938, im Oktober 2010 niedergeschrieben.

Meine Gedanken zum 28. Oktober 1938

On a dreary autumn day of Oct 28, 1938 at the age of 13, my childhood came to a tragic end. I had changed my underwear into a gymnastic outfit for the usual Turnen-Klasse on Fridays at the Real-Pro-Gymnasium in Horst, a Policeman suddenly appeared in my class room and forcibly marched me out to the surprised glanzes of my schoolmates. I could not even changed my clothes into warmer underwear. Cold, bewildered and frightened I did not dare to open my mouth as he marched me to the local Gefaengnis am Horster Stern. My mother was already there together with other dazed and terrified Jewish people. In the evening all of us were taken to the train station by policemen loading us on a train without telling us where we will be going. Later we found out we went to the polish border and a town called Zbaszyn (Bentschen). After the train stopped,we were dumped into No-mans-land on the German-Polish border.

Listening to the negotiations between he Polish and German Officials we realized that we were not considered German Citizens despite the fact that many of us were born in Germany including myself. Since my father was born in Poland, his entire family was considered Polish Nationals, although my mother was born in Herford, Germany. Two awful days followed in Zbanzsyn. I became ill with double-pneumonia,nursed by my helpless desperate mother. Fortunately she was able to contact my fathers family in Lodz-Poland, who obtained for us train tickets to come to their home. Over there, with the help of a good doctore and their love, I slowly recuperated from my sickness. Two weeks later „Krystallnacht“ broke out and our home and business in Horst auf der Markenstr. 19 was completely destroyed and we lost everything. An so, this Odyssey into Hell which began for this 13 year old boy on October 28, 1938 miraculously ended in April 1945 for an ematiated and near dead holocaust survivor, liberated from Riga/Buchenwald during a dead-march by the American Army. All his parents and family members were gone, murdered by the Nazi-regime.

An einem einem trüben Herbsttag nahm meine Kindheit ein tragisches Ende. Es war der 28. Oktober 1938, ich war damals 13 Jahre alt. Ich hatte mich grade umgezogen und trug meinen Turnanzug, die übliche Turnstunde am Freitag stand bevor, als plötzlich ein Polizist in unsere Klasse am Realprogymnasium in Horst kam. Vor meinen überraschten Mitschülern befahl er mir in barschem Ton, mit ihm zu kommen. Ich traute mich nicht, den Mund aufzumachen, ich konnte mich nicht einmal mehr umziehen. Völlig verängstigt, verwirrt und frierend folgte ich ihm zum Polizeigefängnis am Horster Stern. Dort sperrte man mich in eine Zelle, in der sich schon meine Mutter und andere Juden befanden. Sie alle waren völlig betäubt und erschrocken. Am Abend wurden wir von Polizisten zum Bahnhof gebracht und mußten in einen wartenden Zug einsteigen, niemand sagte uns, wo die Fahrt hingehen sollte. Später fanden wir heraus, dass man uns an die polnische Grenze in die Nähe eines Ortes Namens Bentschen (Zbaszyn) gebracht hatte. Nachdem der Zug anghalten hatte, warf man uns hinaus und wir standen mitten im Niemandsland an der deutsch-polnischen Grenze.

Aus den Gesprächen der deutschen Grenzer mit den Polen entnahmen wir, das wir nicht als Deutsche galten, obwohl viele von uns in Deutschland geboren waren. Da mein Vater in Polen geboren wurde, sah man seine ganze Familie als polnische Staatsangehörige an, obwohl meine Mutter in Herford und ich in Gelsenkirchen geboren worden war. Zwei schreckliche Tage folgten, ich bekam eine beidseitige Lungenentzündung. Meine hilflose und verzweifelte Mutter pflegte mich, so gut sie konnte. Glücklicherweise konnte Mutter Kontakt mit der Familie meines Vaters in Lodz aufnehmen, sie schickten uns Bahnfahrkarten, so konnten wir zu ihnen fahren. Dort erholte ich mich langsam von meiner Krankheit, dank Mutters liebevoller Pflege und der Hilfe eines Arztes. Zwei wochen später fand dann in Deutschland die „Kristallnacht“ statt. Unser Geschäft und unsere Wohnung an der Markenstraße 19 in Gelsenkirchen-Horst wurden völlig zerstört, wir hatten alles verloren. Diese Odysee in die Hölle, die am 28. Oktober 1938 für mich als 13jähriger begann, endete auf wundersame Weise im April 1945, als ich ausgemergelt und dem Tode nahe während eines Todesmarsches von amerikanischen Soldaten befreit wurde. Meine Eltern und alle meine Angehörigen waren tot, ermordet vom Nazi-Regime.

Die Flucht und glückliche Befreiung des Häftlings Nr. 82609 des Konzentrationslagers Buchenwald

Am 10. April 1945 wurden 4.000 Häftlinge des KZ Buchenwald von der SS auf einen Todesmarsch geschickt, der von Buchenwald nach Dachau führen sollte. Unter Ihnen befand sich auch Herman Neudorf. Die Häftlinge wurden von Amerikanischen Soldaten in der Nähe von Jena befreit. Herman Neudorf beschreibt in seinem Bericht vom 20. April 1945 die Umstände seiner Befreiung:

→ Die Flucht und glückliche Befreiung des Häftlings Nr. 82609

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