Freie Betten durch Vernichtung von Leben

NS-Ideologie: Krankenmorde zugunsten der Gesunden

Hunderte Gelsenkirchener Kinder der Geburtsjahrgänge 1943 und 1944 wurden in Tungerloh-Capellen im Münsterland geboren. Was es mit diesem Geburtsort auf sich hat, ist den Wenigsten bekannt.

Die Aufnahme evakuierter schwangerer Frauen und Kranker aus Gelsenkirchen zum Schutz vor zunehmenden Luftangriffen im Bischöflichen Pflegeheim Haus Hall in Tungerloh-Capellen (Gescher) im Jahr 1943 setzte auch dort die entsprechenden Aufnahmekapazitäten voraus. „Freie Betten“ sollten nach dem Willen des Naziregimes im Rahmen der so genannten „Aktion Brandt“ ab etwa Mitte 1943 mit dem „Abtransport“ der bisher in der Einrichtung untergebrachten behinderten Kinder und Pfleglinge und deren nachfolgende Ermordung („Dezentrale Euthanasie“) geschaffen werden.

In einer Broschüre zum 125jährigen Bestehen von Haus Hall findet sich auch ein Schreiben der „Gemeinnützigen Kranken-Transport-G.m.b.H.“ vom 6. Juli 1943. Darin wurde der Abtransport von 117 Männern, 106 Frauen und 99 Kindern “ – abzüglich der unentbehrlichen Arbeitskräfte“ – aus dem Haus Hall für den 8.7.1943 angekündigt. Der damalige Direktor benachrichtigte umgehend den Bischof von Münster und dieser erklärte sich allein zuständig für eine Zweckänderung der Anstalt. Schon vor dem Abschluß eines Vertrages sollten die Räume in Haus Hall durch Verlegung der Pfleglinge für die neue Bestimmung „freigemacht“ werden. Es bestand hoher Verdacht, daß damit die Pfleglinge der „Euthanasie“ zugeführt werden sollten. Die Ankündigung der Gemeinnützigen Kranken-Transport G.m.b.H. Berlin (Kurzbezeichnung Gekrat), diese Verlegung zwei Tage später erledigen zu wollen, brachte die Pfleglinge in höchste Lebensgefahr.

Der Bischof von Münster erreichte mit seinem Widerstand gegen den Abtransport einen Aufschub von einer Woche. So konnte erreicht werden, dass eine Anzahl Kinder von ihren Eltern bzw. Angehörigen abgeholt und weitere von anderen Anstalten (Ursberg, Marienburg/Coesfeld und St. Josefshaus/Wettringen aufgenommen wurden.

Wieviele der PatientInnen aus dem Haus Hall in Folge der „Verlegungen“ von 1943 letztlich der „NS-Euthanasie“ zum Opfer gefallen sind, ist bisher unerforscht. Sicher ist, dass im Zeitraum zwischen Mitte August 1943 und Februar 1945 im „Schutzengelhaus“ von Haus Hall über 800 Gelsenkirchener Kinder geboren wurden.

Behinderte Kinder mit den betreuenden Ordensschwestern vor dem "Schutzengelhaus" von Haus Hall

Behinderte Kinder mit den betreuenden Ordensschwestern vor dem „Schutzengelhaus“ von Haus Hall

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