Zimmer 71: Die NS-Folterstätte im Rathaus Buer

In Zeiten des Terrors, wenn es den Herrschenden darum geht, ein Klima von Bedrohung und Willkür zu erzeugen, sind perverse Gewalttäter wie beispielsweise Hugo König aus Gelsenkirchen-Buer gradezu gefragt: jener Typus, der zunächst in der SA (Sturmabteilung, Parteiarmee der NSDAP) eine Heimat fand, in deren Uniform er ungestraft politisch missliebige Mitbürger zusammenschlagen und quälen konnte.

Der verurteilte Haupttäter Hugo König aus Buer nennt im gegen ihn 1947 geführten Strafprozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit pp. die ‚offizielle‘ Bezeichnung der Gelsenkirchener Folterstätte während seiner „Tätigkeit“ dort : „Exekutivstelle der SA, Buer – Rathaus, Zimmer 71“ (SA-Sturmbann III u. IV). Wie uns das Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen (ISG) jüngst auf Nachfrage mitteilte, befinden sich im Stadtarchiv keinerlei weitere Unterlagen bzw. Informationen zu dieser Folterstätte und den damit verbundenen Ereignissen im Zimmer 71.

Gleichwohl dürfte auch diese Folterstätte im Rathaus Buer seinerzeit in weiten Teilen der Bevölkerung bekannt gewesen sein, nicht zuletzt durch wieder entlassene Opfer, die über ihre ‚Behandlung‘ dort zwar nichts erzählen durften, es aber vermutlich trotzdem im Familien- und Freundeskreis taten. Auch die sichtbaren Verletzungen, die viele der zumeist willkürlich Verhafteten davontrugen, sprachen für sich. Gerade auf die Angst vieler Menschen vor Verfolgung, Inhaftierung und Misshandlung zielte die Strategie der Nationalsozialisten ab, die ihre Gegner und deren Familien und Freunde einschüchtern wollten, um die eigene herrschende Position weiter zu festigen und Widerstand zu beseitigen.

Die Bezirksvertretung Gelsenkirchen-Nord will die historischen Bedeutung der Folterstätte Zimmer 71 auf der nächsten Sitzung am 1. September 2022 erörtern. Hintergund ist die von uns angeregte Errichtung eines entsprechenden Erinnerungs- bzw. Lernortes.

Quelle Zeitungsartikel: Westfälische Rundschau vom 14. Juni 1947, in „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus: Katalog zur Dauerausstellung der Dokumentationsstätte Gelsenkirchen (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte (ISG) – Materialien, Bd.12), 1. Auflage, August 2017, S. 248“

Die Namen folgender, im Rathaus Gelsenkirchen-Buer im Jahr 1933 von SA und SS-Angehörigen im Zimmer 71 gequälten und misshandelten politisch Andersdenkenden und Regimegegner sind bekannt:

1. Fall Willi Ruschinski
Der Zeuge Ruschinski wurde im Sommer 1933 von der Gestapo mit einem Brief zum Zimmer 71 geschickt. Dort wurde er über einen Tisch geworfen und, nachdem man ihm einen Mantel über den Kopf geworfen hatte, von 5 Personen, unter denen sich der Angeschuldigte befand, bis zur Besinnungslosigeit mit Gummiknüppeln geschlagen.

2. Fall Gustav Wiechert
Der Zeuge Wiechert wurde am 23.11.1933 von drei SA-Männern aus seiner Wohnung geholt und zum Zimmer 71, von dort zum Polizeigefängnis gebracht. Hier wurde er von mehreren Personen über einen Tisch geworfen und so mit Gummiknüppeln zugerichtet, das er 14 Tage nur auf dem Bauch liegen konnte. Der Angeschuldigte hat sich an der Misshandlung beteiligt.

3. Fall Paul Fischer
Der Zeuge Fischer wurde am 3.11.1933 zu einer Vernehmung auf Zimmer 71 bestellt. Da er die Beschuldigungen abstritt, wurde er von mehreren Personen aber einen Tisch geworfen und mit Gummiknüppeln besinnnungslos geschlagen. Als er nach einem Wasserguss wieder zu sich kam, begann die Misshandlung in derselben Weise von neuem. Dar Angeschuldigte war daran massgeblich beteiligt.

4. Fall Rudolf Puls
Der Zeuge Puls wurde am 3.11.1933 von zwei SA-Männern festgenommen und zum Zimer 71 gebracht. Hier befanden sich etwa sechs Personen, darunter der Angeschuldigte. Da der Zeuge gegen seine Festnahne protestierte, wurde er wie in den Fällen 1-3 besinnungslos geschlagen.

5. Fall Hermann Drechsel
Der Zeuge Drechsel wurde Mitte Oktober 1933 von drei SA-Männern festgenommen und zum Zimmer 71 gebracht, wo er Angaben über kommunistische Funktionäre machen sollte. Da er sich weigerte, wurde er in Abständen zwei Stunden lang in der geschilderten Weise mit Totschlägern und Gummiküppeln misshandelt. Der Hauptbeteiligte war der Angeschuldigte.

6. Fall Franz Lech
Anfang Oktober 1933 drang der Angeschuldigte mit drei SA-Männern in die Wohnung des Zeugen Lech ein und durchsuchten sie nach Waffen und Schriften. Einer der SA-Männer versetzte dem Zeugen mit einem Gummiküppel vier Schläge über Kopf und Schulter.

7. Fall Gustav Siebert
Anfang Oktober 1933 durchsuchte der Angeschuldigte mit drei SS-Männern die Wohnung des Zeugen Siebert nach Schusswaffen. Hierbei wurde dieser von allen vieren mit Gummiknüppeln besinngslos geschlagen.

8. Fall Wilhelm Kolozeizick
Der Zeuge Kolozeizick wurde Ende Oktober 1933 aus seiner Wohnung geholt und zum Zimmer 71 gebracht. Da er keine Aussage machte, wurde er mit Gummiknüppeln bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen An der Misshandlung hat sich der Angeschuldigte beteiligt.

9. Fall Johann Balzer
Nach dem Reichtagsbrand 1933 wurde der Zeuge Balzer von der Gestapo in Buer vernommen. Da er Fragen nicht beantwortete, wurde er von dem Angeschuldigten und zwei SA-Männern mit Gummiknüppeln niedergeschlagen.

10. Fall Eduard Schuler
Der Zeuge wurde Anfang Oktober 1933 aus seiner Wohnung geholt und zur Vernehmung zum Zimmer 71 gebracht. Als er keine Aussage machte, wurde er mit Gummiknüppeln geschlagen. Während der Misshandlung kam der Angeschuldigte ins Zimmer und beteiligte sich daran.

11. Fall Otto Hellwig Der Zeuge Hellwig wurde im März oder April 1934 von dem Angeschuldigten und mehreren SA-Männern aus dem Bett geholt und zur Vernehmung zum Hotel Würzburger Hofbräu* gebracht. Hier wurde er über einen Bock gelegt und mit Gummiknüppeln misshandelt. Der Angeschuldigte hat sich hierbei besonders hervorgetan.

Die vorstehende Auflistung der Fälle ist zu finden in: LAV NRW, Abt. Rheinland, Rep. 0105 Nr. 262 ./. Kaufmann Hugo König aus Gelsenkirchen-Buer wegen Misshandlung von Kommunisten, Aktenzeichen: 29 KLs 5/47
* Im Fall von Otto Hellwig weicht der Tatort ab, Hellwig wurde nach eigenen Angaben von der SA im Hotel Monopol, Springestraße in Gelsenkirchen-Buer (Würzburger Hofbräu) gefoltert.)
Vgl. auch: Website der Stolpersteine Gelsenkirchen, ‚Die Dabeigewesenenen‘: Hugo König
Abb.: Der gebürtige Gelsenkirchener Maler Karl Schwesig (*19. Juni 1898 in Braubauerschaft, heute Gelsenkirchen-Bismarck; † 11. Juni 1955 in Düsseldorf) war 1933 Terror und Folter durch die Düsseldorfer SA ausgesetzt. 1935/36 beendet er die Arbeit an einem Graphikzyklus, mit dem er festhält, was ihm und seinen Mitgefangenen im SA-Folterkeller an der Düsseldorfer Bismarckstraße („Schlegelkeller“) widerfahren ist. Nach Karl Schwesig ist eine Straße in Gelsenkirchen-Buer benannt. Bildzitat aus: Karl Schwesig, Schlegelkeller, Ausst.-Kat. Galerie Remmert und Barth, Düsseldorf 1983, S. 32 / © Nachlass Karl Schwesig
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