74. Jahrestag der Deportation Gelsenkirchener Sinti und Roma

„… So viele unserer Menschen sind dort geblieben.“

Am 9. März 1943 wurden die noch in Gelsenkirchen in einem Internierungslager an der damaligen Reginenstraße lebenden deutschen Sinti und Roma festgenommen und in das so genannte „Zigeunerfamilienlager“ Auschwitz-Birkenau verschleppt. In den Lagerbüchern des KZ ist die Ankunft der aus Gelsenkirchen verschleppten Menschen am 13. März 1943 festgehalten. Die Lebenswege von 164 Menschen endeten mit der Ermordung im „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau und 48 mit einem unbekannten Schicksal in Auschwitz. 31 als „Zigeuner“ verfolgte Menschen mit Lebensmittelpunkt in Gelsenkirchen konnte eine Deportation nach Polen im Mai 1940 nachgewiesen werden, fünf weitere Menschen, ebenfalls Angehörige dieser Minderheit, wurden in anderen Lagern des so genannten „Dritten Reiches“ ermordet.

Im Schlußwort der bisher einizigen in Buchform erschienen Dokumentation zu den Lebens- und Leidenspuren Gelsenkirchener Sinti und Roma aus dem Jahr 1999 heißt es zusammenfassend:

„Die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma wurde bürokratisch korrekt überwiegend vom Verwaltungsapparat der Stadt Gelsenkirchen und einigen weiteren Verwaltungs- und Verfolgungsbehörden des „Dritten Reiches“ abgewickelt. (…) Im Gesamtprozeß kann festgestellt werden, daß die Gelsenkirchener Akteure keineswegs nur übergreifende Regelungen anwendeten und gewissermaßen „von oben“ geführt und angewiesen handelten, sondern ein beträchtliches Maß an Eigeninitiative bei der Verfolgung von Sinti und Roma entwickelten. An der Verfolgung und Ermordung dieser Menschen nahmen zahlreiche „ganz normale“ Gelsenkirchener teil. Wie deren schriftliche Hinterlassenschaften widerspiegeln, wußten diese, was sie taten, und sie hatten keinerlei nachweisbare Gewissensbisse. Keiner der an der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma im Raum Gelsenkirchen Beteiligten wurde für die Beteiligung an der Verfolgung der Sinti und Roma in Gelsenkirchen zur Rechenschaft gezogen. Diejenigen, die sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg mit der „Bekämpfung der Zigeunerplage“ in Gelsenkirchen mit den hier dargestellten Ergebnissen befaßten, kamen aus der Mitte der lokalen Gesellschaft Gelsenkirchens und Deutschlands und spiegelten in ihrem Verhalten, ihren Denk- und Verhaltensweisen die lokale und die deutsche Gesellschaft wider. Am Beispiel Gelsenkirchens zeigt sich auch die zentrale Rolle der Zweige des Polizeiapparates, die gewissermaßen „im Schatten der Gestapo“ an den Verbrechen während des „Dritten Reichs“ beteiligt waren. Auch wird die umfassende Beteiligung von Teilen der Stadtverwaltung an den Verbrechen während des „Dritten Reiches“ sichtbar.

Terror und Mord waren nicht das Werk einiger weniger Unterdrücker, sondern an der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma im Raum Gelsenkirchen waren viele Gelsenkirchener und vor allem Gelsenkirchener Beamte beteiligt, die keineswegs allesamt überzeugte Nationalsozialisten waren. Weiterhin ist für die ganze deutsche ebenso wie für die lokale Gesellschaft festzustellen: Die hier dargestellten Ereignisse fanden mitten in der Gesellschaft statt. Die Ausgrenzung, Diskriminierung und offensichtliche Verfolgung von Sinti und Roma in Deutschland und in den besetzten Gebieten rief keine Proteste hervor.“

(Schlußbemerkung in Stefan Goch, „Mit einer Rückkehr nach hier ist nicht mehr zu rechnen“ – Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma während des „Dritten Reiches“ im Raum Gelsenkirchen. Klartext, Essen 1999. ISBN: 3-88474-785-1.)

1997 wurde ein Abguss der 1955 von Otto Pankok geschaffenen Bronzefigur „Ehra“ als Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma am Alten Hafen in der Nähe der Rheinuferpromenade in Düsseldorf
aufgestellt. Seitdem dienen die Figur und ihre Umgebung als Ort für Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Getöteten. Eine Steinplatte neben der Figur trägt folgende Inschrift: „Zum Gedenken an die Sinti und Roma, die durch den Nationalsozialismus Opfer des Völkermordes wurden. Diese Figur des Sinto-Mädchens Ehra schuf der Künstler Otto Pankok (1893–1966) zur Erinnerung an die mit ihm befreundeten Düsseldorfer Sinti, von denen über hundert aus dem Lager Höherweg abtransportiert und ermordet wurden. Das Mädchen Ehra selbst gehörte zu den wenigen KZ-Überlebenden.“ (Foto: Wiegels)

In Gelsenkirchen fehlt bisher ein öffentlich sichtbares Zeichen der Erinnerung und des Willens, dass Schicksal der aus Gelsenkirchen verschleppten und in Auschwitz ermordeten Sinti und Roma nicht zu vergessen. Seit vielen Jahren setzt sich Andreas Jordan (Gelsenzentrum e.V.) für die Errichtung eines dauerhaften, öffentlichen Zeichen des Gedenkens ein. Derzeit ist die Stadtverwaltung nach einem Bürgerantrag von Jordan, exemplarisch einen Platz nach dem 10jährigen in Auschwitz ermordeten Sinti-Mädchen Rosa Böhmer zu benennen, auf der Suche nach einem geeigneten Ort.

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