Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz war Sammellager
Am 27. Januar 1942 vollzog sich mit der Riga-Deportation einer der letzte Schritte zur Vernichtung der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchens. Der 27. Januar sollte nach unserem Dafürhalten zum zentralen Gedenktag für die örtliche Geschichte der Shoa werden. Nicht zuletzt symbolisiert dieser Tag exemplarisch auch die kommunale Mitwirkung an der NS-Politik, denn die Stadt Gelsenkirchen hatte als untere Verwaltungsbehörde die NS-Vernichtungspolitik auf kommunaler Ebene umzusetzen.
Einige Tage vor dem Abtransport in das Ghetto Riga wurden die von der Deportation Betroffenen zur Ausstellungshalle an der Wildenbruchstraße verschleppt. In dieser Halle, von den Nazis zum temporären “Judensammellager“ umfunktioniert, wurden rund 360 jüdische Frauen, Männer und Kinder jeden Alters aus Gelsenkirchen eingepfercht, etwa 150 weitere jüdische Menschen wurden aus umliegenden Städten nach Gelsenkirchen transportiert. Die NS-Verfolgungsbehörden stellten in diesen Tagen ab Gelsenkirchen einen der so genannten „Judensammeltransport“ zusammen. Die Menschen wurden im Sammellager ihrer Wertsachen beraubt, Frauen und Mädchen wurden gynäkologisch untersucht, um so jedes mögliche Versteck für Schmuck oder Geld aufzuspüren.
Vor 75 Jahren sahen an diesem 27. Januar in der Ausstellungshalle mehr als 500 eingesperrte Menschen einer schrecklichen, von den Nazis bereits vorbestimmten Zukunft entgegen. Die Menschen wussten nicht, was sie am Bestimmungsort erwarten sollte. Einige Wochen vor der Deportation hatten die Betroffenen bereits Briefe erhalten, darin wurde dem Empfänger mitgeteilt, dass er zur „Evakuierung in den Osten“ eingeteilt ist und sich an einem bestimmten Tag für den Transport bereit zu halten habe.
Die Menschen glaubten zu diesem Zeitpunkt noch an einen Arbeitseinsatz im Osten, wurde doch in dem Brief detailliert aufgelistet, welche Ausrüstungsgegenstände mitzunehmen sind: Schlafanzüge, Nachthemden, Socken, Pullover, Hosen, Hemden, Krawatten, warme Kleidung, Näh- und Rasierzeug, Bettzeug, Medikamente und Verpflegung. Arbeit im Osten, daran glaubte man. Denn Arbeit bedeutet Brot, und Brot bedeutet Leben, bedeutet Überleben, so dachte man. Niemand konnte sich vorstellen, dass das alles nur Lug und Trug war, perfider Teil eines Mordplans, den die Nazis „Endlösung“ nannten. Am frühen Morgen des 27. Januar 1942 wurden die Menschen dann zum alten Güterbahnhof getrieben, ihr Gepäck wurde verladen. Der Zug verließ schließlich Gelsenkirchen in Richtung Riga. Dieser Menschentransport war der erste aus Gelsenkirchen, weitere sollten in den nächsten Monaten folgen.
Die jüdische Bevölkerung mußte den Transport in das Ghetto Riga, der für die meisten eine Reise in den Tod war, selbst bezahlen. Aus dem Nachlass von Lewis R. Schloss sind Benachrichtigungen im Zusammenhang mit der Deportation erhalten. Die staatlich legalisierte Ausplünderung jüdischer Menschen setzte sich auch bei der Deportation fort: Für drei Familienmitglieder mussten 150,- RM als „Gebühr Evakuierung“ und 120,- RM „Transportkosten“ für die Mitnahme der beweglichen Habe gezahlt werden – gegen Quittung. Die Waggons mit den wenigen Habseligkeiten der Verschleppten wurden jedoch bereits in Hannover abgehängt, ihren Besitz haben die Menschen nie wiedergesehen. Diese Dokumente weisen wie kaum andere auf die perfide und zynische Handlungsweise der Nazis, mit der diese die Deportation vorbereiteten und organisierten. Die so genannte „Endlösung“ war zu diesem Zeitpunkt längst beschlossene Sache.
Die Deportationsrichtlinien erließ das Judenreferat des Reichssicherheitshauptamtes. Die örtlichen Stapoleitstellen fassten sie für den lokalen Bereich zusammen und organisierten für ihren Zuständigkeitsbereich den gesamten Abtransport. So waren der Dienstsitz der Stapoleitstellen das Zentrum, zu dem die Judentransporte der umliegenden Städte und Gemeinden zumeist zusammengeführt wurden, um dann den Transport gemäß den Absprachen mit der Deutschen Reichsbahn auf seinen verhängnisvollen Weg zu schicken. Die lokale Schutzpolizei begleitete die Transporte bis nach Riga. Diese Männer waren natürlich in Besitz einer Rückfahrkarte.
Die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ und die noch bestehenden jüdischen Gemeinden, die unter dem Kuratel der Gestapo standen, wurden gleichermaßen mit einbezogen. Sie waren gezwungen, die Deportationslisten nach den Richtlinien der Gestapo zusammenzustellen, die dann von der Staatspolizei überarbeitet und genehmigt wurden. Sie „betreuten“ die Menschen bis zum Abtransport in das Ghetto Riga. Die Gelsenkirchener Jüdin Helene Lewek wählte im “Judensammellager” angesichts der bevorstehenden Deportation die Flucht in den Tod. Auf dem Weg nach Riga wurden weitere Menschen an verschiedenen Haltepunkten – u.a. in Dortmund und Hannover – in den Zug gezwungen. Der Deportationszug der Deutschen Reichsbahn erreichte schließlich mit etwa 1000 Menschen am 1. Februar 1942 Riga in Lettland.
Die allermeisten der am 27. Januar 1942 von Gelsenkirchen nach Riga verschleppten jüdischen Menschen wurden von den Nazis ermordet. Die oftmals einzigen Spuren ihres Lebens finden sich heute meist nur noch in den alten Meldeunterlagen der Stadtverwaltung. Es sind verschleiernde bürokratischen Vermerke wie „amtlich abgemeldet“, „nach dem Osten abgeschoben“ oder „unbekannt verzogen“. Es blieben von den Verschleppten nur wenige Menschen am Leben, die zurückkehrten und Zeugnis ablegen konnten.
Heute erinnert an diesem Gelsenkirchener Tatort nichts mehr an das „Judensammellager“ und die Deportation vom 27. Januar 1942. Die von uns im Frühjahr 2014 an den Rat der Stadt Gelsenkirchen gerichtete Anregung, am damaligen Standort des “Judensammellagers” einen Gedenk- und Erinnerungsort zu errichten, ist bisher nicht realisiert worden.
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