SS-Killer Heinrich Boere: “Ja, ich hab die weggemacht”

Er mordete für das Kommando „Silbertanne“. 63 Jahre blieben die Taten des Heinrich Boere ungesühnt. Nun soll er im vielleicht letzten großen NS-Prozess vor Gericht. Der FOCUS hat den SS-Killer ausfindig gemacht.

Der SS-Killer Heinrich Boere im FOCUS-Interview

Heinrich Boere

„Herr Boere, ist es Ihnen eigentlich schwergefallen, die Menschen zu erschießen?“ – „Ach, nein, schwer fiel mir das nicht. Man braucht doch nur einen Finger krumm zu machen.“
Wenn Heinrich Boere zeigen will, wie er die Menschen umgebracht hat, formt seine Hand eine Pistole. Dann streckt er seinen immer noch kräftigen Arm dem Besucher entgegen. Der Mittelfinger seiner Hand krümmt sich, drückt ab. „Peng! Tot!“, sagt der 86-Jährige und lächelt. Er greift wieder zu Messer und Gabel und isst weiter.

Es ist Mittagszeit in einem Kreiskrankenhaus am Rande der Eifel. Hier hat FOCUS den SS-Killer gefunden. Boere löffelt eine Brühe, dann isst er ein Rahmschnitzel. Er hat wieder guten Appetit. Den Kollaps in der vergangenen Woche, kurz nachdem der Oberstaatsanwalt zu ihm ins Seniorenheim kam, hat er gut überstanden. In seinem Arm steckt eine Kanüle, der Blutverdünner Heparin fließt über einen Tropf in seine Vene. Heinrich Boere schluckt die Mittagsration seiner Medikamente, schließlich gibt es Nachtisch, Vanillepudding. „Wissen Sie, als Soldat hatte ich ja nichts Gescheites zu essen, oft nur Kohlsuppe. Nein, schön war das nicht.“ Er fasst an sein mobiles Langzeit-EKG, einen kleinen Plastikkasten, der über seinem Bauch baumelt und der ihn offenbar an seine alte Dienstwaffe erinnert: „Meine Pistolentasche“, sagt er und glaubt, ihm sei ein Witz gelungen.

Die Frühlingssonne fällt ins Krankenzimmer und nimmt seinen Gesichtszügen die Schärfe. Sein volles Haar, das er bei seinen geliebten Spaziergängen unter einem beigen Hut verbirgt, ist kurz geschnitten und steht etwas wirr vom Kopf ab, weil er gerade geschlafen hat. Seine kleinen Augen hinter der Brille verraten nicht viel über ihn, sie kneifen sich zusammen. Gerade eben sah es noch so aus, als verziehe Boere seinen Mund nur, weil die Sonne ihn blendet. Doch er lächelt wirklich, die meiste Zeit des Gesprächs über wird er es tun. „Meine Pistolentasche …“, sagt er ein weiteres Mal, isst seinen Pudding und wartet auf eine Reaktion.

Seine Aussicht ist schön. Wenn Boere aus dem Fenster im dritten Stock der Klinik schaut, blickt er auf ein Dächermeer und blühende Bäume. Er ist im nahen Eschweiler bei Aachen geboren worden, so sagt er, als Sohn eines Niederländers und einer Deutschen. Als Kind schon siedelt er mit seinen Eltern in die Niederlande über, dort erlebt er auch den Kriegsbeginn. Anfang der 50er-Jahre kehrt er zurück in seine deutsche Heimatstadt. Hier führt er ein bürgerliches Leben, arbeitet als Bergmann. Die letzten 31 Jahre verbringt er als Frührentner, der bei seinen Spaziergängen oft angesprochen wird – wegen seiner beiden lustigen Begleiter, zwei Yorkshireterrier.

„Schutzstaffel“: Als die Wehrmacht 1940 die Niederlande besetzt, tritt auch Boere in die Waffen-SS ein, kämpft zunächst in Russland, dann wird er Mitglied einer Todesschwadron
1940 tritt Boere freiwillig in Hitlers „Germanische SS in den Niederlanden“ ein, wie Zehntausende andere seiner Landsleute. Schon bald muss er nicht länger in Russland kämpfen, sondern bekommt eine Aufgabe, die Kaltblütigkeit erfordert: Er wird Mitglied einer Todesschwadron, des SS-Sonderkommandos Feldmejer, das unter dem Decknamen „Silbertanne“ zuschlägt. Ein Killertrupp von etwa 15 Mann, der auf persönlichen Befehl Hitlers „Vergeltung“ üben, der für jeden getöteten deutschen Soldaten drei niederländische Zivilisten umbringen soll. Mindestens 54 Niederländer ermorden die Vollstrecker der „Silbertanne“. Einigen ihrer Opfer unterstellen sie Kontakt zum Widerstand. Meist fällt die Wahl der SS und des Sicherheitsdienstes auf bekannte und angesehene Bewohner eines Ortes, um den Schrecken zu mehren. Schließlich fürchten die Besatzer Unruhen.

Obwohl Boere im Auftrag einer „Geheimen Reichssache“ tötet, sind seine Taten genau dokumentiert. Gerichtsakten berichten von seiner „Heimtücke“. Das Jahr 1944: Am 14. Juli zieht Boere mit einem SS-Kameraden los, betritt die Apotheke von Fritz Bicknese in Breda. Er nutzt dessen Arglosigkeit, zieht die durchgeladene und entsicherte Pistole aus seiner rechten Manteltasche, feuert und lässt Bicknese in seinem Blut zurück. Am 3. September erfüllt Boere den nächsten Auftrag: Er sucht den Fahrradhändler Teunis de Groot in Voorschoten auf. Er klingelt an dessen Tür, der Mann öffnet ein Fenster, beugt sich heraus und nennt seinen Namen, bevor Boeres Kugeln ihn treffen. Noch am gleichen Tag reisen die SS-Männer weiter nach Wassenaar zum Haus von Frans-Willem Kusters. Weil sich dessen Frau schützend vor ihn stellt, nehmen die beiden Schergen Kusters zu sich ins Auto, täuschen unterwegs eine Panne vor und erschießen auch ihn. 1949 wird Boere deswegen vom Sondergerichtshof Amsterdam zum Tode verurteilt, kann aber fliehen und untertauchen.

Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges ist seltsam gnädig zu Boere. Im Krankenhaus erzählt er von ihr wie von einem Abenteuer. An den 10. Mai 1940, den Tag, an dem die deutsche Wehrmacht die Niederlande überfällt, denkt er zurück wie an eine Verheißung. Erzählt, wie er als 18-Jähriger auf den Dachboden rennt, begeistert in den Himmel starrt, über dem zum ersten Mal deutsche Bomber fliegen. „Die Mutter sagte mir: ,Siehst du, jetzt kommen die Deutschen, jetzt wird alles besser! Und es wurde ja auch alles besser.“ Für ihn. Die Erinnerung an seinen Eintritt in die „Germanische SS“ legt Stolz in sein Gesicht: „Ich fühlte mich schon immer als Deutscher.“

Eine Dreiviertelstunde lang spricht Boere bereitwillig mit FOCUS, anschließend lächelt er auch in die Kamera des Fotografen. Er wirkt robust und bei klarem Verstand. Im Krankenhaus scheint er sich gut zu erholen. Was ihm gerade fehlt, weiß er selbst nicht genau, er berichtet von Herzrhythmusstörungen und Wasser in der Lunge. „Aber die wollen mich hier kurieren, die wollen, dass ich 100 Jahre alt werde.“

„Die Zeit drängt“: Der Dortmunder Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß hat Boere wegen dreifachen Mordes angeklagt – jetzt begutachten Ärzte, ob er verhandlungsfähig ist

Dutzende Male hat er in den letzten Tagen Journalistenfragen am Telefon abgeschmettert, hat, bevor er auflegte, noch Beschimpfungen in den Hörer gerufen. Die Kamerateams aus den USA, Deutschland und den Niederlanden, die vor seinem Heim versuchen, Bilder des SS-Mannes einzufangen, werden schon auf dem Parkplatz von aufgebrachtem Pflegepersonal gestoppt. „Vorsicht, dieses Gebäude ist videoüberwacht“, warnt ein Schild an der Eingangspforte. Jahrelang bekam der einstige SS-Scherge keinen Besuch und verbarrikadierte sich.

Doch nun lässt Boere jede Tarnung fallen und gerät ins Plaudern. Es wirkt, als wolle er etwas loswerden, als wolle er sich von etwas befreien. Am Ende wird er seine Taten einräumen. „Ja, ich hab die weggemacht. Musste ich doch. Sonst hätten die mich doch …“ Sogar seine von ihm selbst gepflegte Lüge, er habe nur „Feinde Deutschlands“ erschossen, entlarvt er nachträglich: „Man hat uns gesagt, das wären Unterstützer von Partisanen gewesen – aber daran hatten wir schon damals nicht geglaubt.“

Die 63 Jahre nach dem Ende des Krieges haben Heinrich Boere kaum etwas anhaben können, er hat sie bei guter Gesundheit überlebt. Der mittelgroße Mann mit dem breiten Kreuz und dem Kugelbauch wiegt zwei Zentner. Eher gemächlich als gebrechlich wirkt er, wenn er sich, auf einen Rollator gestützt, über die Gänge der Klinik schiebt. Er grüßt auch fremde Leute höflich, in seiner Stimme schwingt ein holländischer Akzent, was ihr etwas Heiteres gibt. Als die Niederlande ihm nach dem Krieg die Staatsangehörigkeit aberkennen, versucht er, in Deutschland eingebürgert zu werden, ohne Erfolg. Und bleibt staatenlos, so steht es in seiner Gerichtsakte. Er hat nie geheiratet, hatte nie Kinder, seine Wohnung in Eschweiler gab er vor wenigen Jahren auf, als er ins Heim zog. „Ich war immer allein“, sagt Boere. Es scheint, als habe ihn die Zeit immer selbstgewisser werden lassen, als habe sie ihm Gelassenheit gegeben.

Nervös wurde der rüstige Alte freilich, als vor einigen Wochen der Dortmunder Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß zu ihm ins Seniorenheim kam und zu ihm sagte: „Herr Boere, ich werde Sie wegen Mordes in drei Fällen anklagen.“ Ihm also eine Sensation mitteilte: 63 Jahre nach Kriegsende könnte schon bald zum letzten Mal ein Nazi-Verbrecher vor einem deutschen Gericht stehen. Boere kippte wenig später in einem Linienbus um, auf dem Weg zum Einkaufen. „Die Leute im Bus waren hilfsbereit“, sagt Boere, „aber ich war denen zu schwer, die brachten mich nicht hoch.“

Seinen drei Tischnachbarn im Heim, allesamt Weltkriegsteilnehmer wie er, erzählte er nichts von diesem Besuch. Die vier Männer nehmen ihre Mahlzeiten meist schweigend miteinander ein. Einer von ihnen klagt manchmal über Schmerzen in seinem linken Bein. 48 Granatsplitter stecken bis heute in seinem Unterschenkel, er war wie Boere in Russland. „Aber ein Soldat darf sich nicht fürchten und darf sich nicht beklagen“, sagt Boere. Und dass er wie seine Kameraden „gegen die Kommunisten kämpfen musste und möglichst viele Feinde wegmachen musste“. Wie viele Täter meidet auch Boere das richtige Wort – immer wenn es um Mord geht, spricht er von „Wegmachen“, manchmal auch nur von „Machen“. Oft sucht er erst gar nicht nach beschönigenden Ausdrücken, benutzt stattdessen martialische Gesten – seine Hände simulieren dann einen Würgegriff.

Ort des Vergessens: Heinrich Boeres Wohnungstür in einem Seniorenheim ist geschmückt mit einem Kampfhund-Poster Wenn Boere von Kampf und von Feinden spricht, steht eine Entschlossenheit in seinem Blick, die vielleicht von damals stammt. Die kleinen matten Augen hinter seiner Brille fokussieren ihr Gegenüber, sie provozieren. Wächsern liegt ihm sein Lächeln im Gesicht. Wie eine Maske, die ihm in 63 Jahren angewachsen ist. Boere zeigt keine Angst vor dem, was ihm nun bevorstehen könnte. „Sollen die mich ruhig vor Gericht stellen, mir passiert schon nichts“, sagt er und vertraut darauf, auch dieses Mal davonzukommen.

In seinem Heim muss sich Boere nicht verstecken. Seine Nachbarn dort sind bei Weitem nicht so geistig rege wie er. Boere ist umgeben von Demenzpatienten, die fremde Besucher für ihre Söhne halten oder die nach ihrer Mutter rufen. Fetzen von Selbstgesprächen hallen über den dunklen Flur. An Handläufen geklammert, schlurfen Boeres Mitbewohner auf und ab. Eine seiner Nachbarinnen zur Linken fragt Besucher, die sie auf dem Gang trifft: „Wo bin ich?“ Boere lebt an einem Ort, an dem er sich keinen Fragen, keiner Vergangenheit und keiner Zukunft stellen muss. Seine Kriminalromane, die er sich aus der hauseigenen Bibliothek ausleiht, erinnern ihn manchmal an damals, wenn sie brutal sind. Doch wenn ihm in einer Geschichtssendung im Fernsehen einer von diesen Jungen den Krieg erklären will, schaltet er um. Gern setzt er sich auf seinen kleinen Balkon. Das Personal des Heims hat bereits Blumen in die Kästen gepflanzt. An Boeres Tür auf der Station klebt ein Poster eines kleinen Kampfhunds, denn Hunde mag Boere noch immer. Die Pfleger inszenieren Scheinwelten, sie haben die Station „Meerblick“ getauft und bunte Schiffchen aus Pappe an die Wände geklebt. Boere lebt an einem Ort des Vergessens. Das mag einem, der vergessen lassen will, entgegenkommen.

Der Mann, der gegen das Vergessen arbeitet, der Boere stellen will, spricht leise. In seiner Stimme, seinen Gesten und Gedanken liegt Beharrlichkeit. Ulrich Maaß ist ein Oberstaatsanwalt, der schlicht und verbindlich auftritt. Er leitet die Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Nordrhein-Westfalen. In seinem Dortmunder Büro hängt eine Karte von Osteuropa in den Grenzen von 1940. Sie zeigt Teile „Großdeutschlands“ und das von der Wehrmacht eroberte Polen, das Hitler „Generalgouvernement“ nennen und in dem er seine Vernichtungslager bauen ließ. Wenn Ulrich Maaß auf die Karte schaut, findet er die Tatorte vieler Nazi-Verbrecher, die er sein Berufsleben lang verfolgt hat. Um den vielleicht letzten großen Fall seiner Laufbahn persönlich zu treffen, brauchte er nur eine Stunde von Dortmund mit dem Auto nach Eschweiler zu fahren. Bis heute irritiert ihn der Augenkontakt mit den Angeklagten: „Es ist schlimm, welche Kälte Ihnen da mitunter entgegenblickt.“ Maaß berichtet, wie mehrere Ersuche der Niederlande, Boere auszuliefern oder ihn in Deutschland zu bestrafen, gescheitert sind. Wie auch deutsche Gerichte am Fall Boere gescheitert sind, mal wegen Verfahrensfehlern, mal, weil ein deutsches Gericht Boere „Befehlsnotstand“ attestiert. 1980 wurde seine Auslieferung abgelehnt, weil der offiziell Staatenlose „möglicherweise durch seinen Kriegsdienst die deutsche Staatsangehörigkeit erworben“ haben könnte. Maaß sagt: „Nun wird es Zeit. Dieses Verfahren ist von großer Bedeutung. Und ich bin überzeugt, dass der Prozess gegen ihn leicht zu führen wäre“ – falls die Ärzte Boere Verhandlungsfähigkeit attestieren, davon hängt viel ab.

Schweres Erbe: Maarten Bicknese zeigt ein Foto seines Großvaters Fritz, den Boere 1944 erschossen hat. Der Enkel sagt: „Ich möchte, dass mein Großvater nicht anonym bleibt.“
Im Juni 2003 beantragte das niederländische Justizministerium, die vom Todesurteil 1954 in eine lebenslange Haft umgewandelte Strafe gegen Boere endlich zu vollstrecken. Im Februar 2007 entschied das Amtsgericht Aachen, dass die Verurteilung in Amsterdam rechtens war und er seine Haft in Deutschland antreten müsse. Das Gericht argumentierte: „Bei den Tötungen handelt es sich schon deshalb um keine rechtmäßigen Kriegshandlungen, weil sie nicht durch die bewaffnete Militärmacht, sondern durch Angehörige der Germanischen SS vorgenommen wurden und zudem die Opfer auch nicht als Widerstandskämpfer beim Kampf betroffen waren … oder sich zumindest in Aktionsbereitschaft befunden hatten.“ Boere sei die Rechtswidrigkeit der Erschießung unschuldiger Zivilisten klar gewesen, und er habe den verbrecherischen Zweck der Erschießungsbefehle klar erkannt. Doch das Oberlandesgericht Köln hob dieses Urteil wieder auf, weil Boere 1949 in Abwesenheit ohne einen Pflichtverteidiger verurteilt worden war.

Ulrich Maaß sagt, bei einem erneuten Prozess gehe es nun auch darum, „Zeichen zu setzen“, und dass man es den Opfern schuldig sei, nicht nachzugeben. „Die meisten Hinterbliebenen wollen vor allem, dass die Taten zur Kenntnis genommen werden. Viele wollen auch einen Schuldspruch – sie erwarten aber nicht den Schritt zum Vollzug.“ Ulrich Maaß deutet auf seine Akten. Neben Boeres Stapel liegen die Kladden eines Mannes, der ebenfalls mordete und der seit Jahren prozessunfähig ist. Darunter Akten von Tätern, die starben, ehe Maaß sie anklagen konnte. Er sagt: „Wir müssen uns beeilen.“

Von der nordrhein-westfälischen Zentralstelle für NS-Verbrechen in Dortmund sind es drei Stunden Autobahn, dann erreicht man eine der Städte, in denen Heinrich Boere Zivilisten ermordete. In seinem kleinen Haus im niederländischen Breda erinnert sich der Enkel Maarten Bicknese an seinen Großvater Fritz. Daran, wie Heinrich Boere am 14. Juli 1944 dessen Apotheke betrat, auf der Suche nach einem Vergeltungsopfer. Boere fragte ihn: „Sind Sie Fritz Bicknese?“ Dann trafen den Apotheker drei Kugeln. Dieser mutige Mann nahm sein Geheimnis mit in den Tod: Dass er immer wieder Juden im Keller seiner Apotheke versteckt hielt, hatte die SS nie herausgefunden.

Der Enkel lernte seinen Großvater nicht kennen, „aber so vieles von ihm und dieser Tat lebt in unserer Familie weiter. Es tut immer noch weh. Deswegen sprechen wir bis heute nicht viel über das Thema.“ So schwer ihm das Reden über seinen Großvater fällt, der als „nicht deutschgesinnt“ galt, so liebevoll hat er alle Erinnerungen, Briefe und Notizen an ihn in Akten und Alben archiviert, sauber getrennt von den Zeitungsartikeln über Boere: „Ich empfinde keinen Hass gegen ihn, aber ich möchte, dass er Verantwortung übernimmt.“ Dann zieht er ein Foto seines Großvaters aus dem Ordner, berührt es mit Behutsamkeit. Es zeigt ihn wenige Wochen vor seinem Tod. Maarten Bicknese ähnelt seinem Großvater – die schrägen, tiefen Augenlider, der ernste Mund. Maarten Bickneses Frau flüstert: „Mein Mann ist eigentlich sehr rational. Aber ich merke, wie er sich verändert, wie er viel emotionaler wird. Jetzt, da er bald so alt ist, wie sein Opa wurde – 56 Jahre.“

Boere ist 30 Jahre älter als sein Opfer geworden, er hat diese Zeit als Vorruheständler verlebt und für die zwei Jahre, die er in Kriegsgefangenschaft verbrachte, Entschädigungszahlungen vom deutschen Staat beantragt. Er hat viel gebetet, denn Boere ist ein gläubiger Mensch. Das Ölgemälde mit der Mutter Maria über seinem Bett im Heim stimmt ihn andächtig. Er ruft die Madonna an, jeden Abend vor dem Einschlafen. „Ich bete für die Toten des Krieges“, sagt er. Auch für die, die er selbst getötet hat? „Ja, für die auch. Die tun mir doch auch leid.“ Er erzählt selbst das mit einem Lächeln.

Es bleibt die Frage, ob er den Hinterbliebenen seiner Opfer vor Gericht ebenfalls entgegenlächeln würde. Heinrich Boere antwortet: „Ja, natürlich. Lachen ist gesund.“

Reportage aus FOCUS Nr. 18 (2008) Tim Pröse.

Dieser Beitrag wurde unter Über den Tellerrand veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar