NS-Opfer der ‚Reichsbahn‘ wehren sich
Mit einem Eilantrag reagieren NS-Opfer auf die Sperrung von Teilen der Nürnberger Innenstadt. Stadtverwaltung und Deutsche Bahn (DB) wollen den Klägern verbieten, vor dem Eingang zum Nürnberger DB-Museum an die Massendeportationen mit dem Unternehmensvorgänger „Deutsche Reichsbahn“ zu erinnern. Von der Kundgebung der NS-Opfer könne eine „unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ ausgehen, da das Kundgebungsgelände für eine Festveranstaltung mit der Bundeskanzlerin, mit dem Bundesverkehrsminister und 500 Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft benötigt werde. Ihre Feiervorbereitungen zum 175. Jubiläum des deutschen Eisenbahnwesens am 7. Dezember hätten Vorrang. Im Schriftsatz der Kläger heißt es, das verhängte Versammlungsverbot setze unverzichtbare Grundrechte außer Kraft. Offensichtlich gewähre die Stadt Nürnberg einem Event der DB AG einen höheren Rechtsstellenwert als der Kundgebung für die Opfer von Massendeportationen mit dem Unternehmensvorgänger „Deutsche Reichsbahn“.
Mit der Kundgebung soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die DB AG und die Bundesregierung am 7. Dezember zwar das deutsche Eisenbahnwesen feiern, aber sich bis heute weigern, den Überlebenden der Mordbeihilfe der deutschen Bahn in mindestens 3 Millionen Fällen eine angemessene moralische und materielle Würdigung zukommen zu lassen. Mit einer Eilentscheidung des zuständigen Verwaltungsgerichts wird spätestens am Freitag, 3. 12. 2010, gerechnet.
Das faktische Versammlungsverbot wird von den Veranstaltern scharf kritisiert. Das Verhalten der Bahn und der Bundesregierung sei „amoralisch und obszön“, heißt es in einem Interview der Jüdischen Allgemeinen vom 26. November 2010. → Interview
In einem Schreiben an die Bundestagsabgeordneten im Verkehrsausschuss (29.11.) rät der „Zug der Erinnerung“ dringend davon ab, der Einladung zu den Nürnberger DB-Feiern zu folgen. Verbote des Unternehmens, das sich gegen die NS-Deportierten stelle, werde man nicht hinnehmen.
Boykott im Kessel
german-foreign-policy.com schreibt:
NÜRNBERG (Eigener Bericht) – In einem beidseitig abgesperrten Straßenkessel unter Ausschluss der Öffentlichkeit sowie unter Polizeibewachung soll am kommenden Samstag eine Kundgebung für die Überlebenden der „Reichsbahn“-Deportationen in Nürnberg stattfinden. Diese Anordnung erließen die Behörden der Stadt und folgten damit einem Verlangen des „Reichsbahn“-Nachfolgers Deutsche Bahn AG (DB AG). Die Bahn bereitet in Nürnberg einen Festakt zum 175. Jahrestag des deutschen Eisenbahnwesens vor. Angekündigt sind die Bundeskanzlerin, der Bundesverkehrsminister, die Bahnspitze und 500 Personen aus Politik und Wirtschaft. Die Demonstranten, darunter „Reichsbahn“-Deportierte aus Osteuropa und der BRD, hatten beantragt, sich vor dem Museum des „Reichsbahn“-Nachfolgers DB AG versammeln zu dürfen. Dort wollen sie an die DB und an die Bundesregierung appellieren, ihre Deportationsschulden aus der NS-Zeit zurückzuzahlen. Die Kundgebung wird in Nürnberg weder von der regionalen SPD noch von Bündnis 90/Die Grünen unterstützt. Beide Parteien seien personell mit der Deutschen Bahn verwoben, heißt es beim „Zug der Erinnerung“, der zu der Kundgebung aufruft.
Eilantrag
Der Deutschen Bahn sei „nicht zuzumuten“, ihre technischen Vorbereitungen für den Festakt mit der Bundeskanzlerin um etwa 30 Minuten einzuschränken, nur weil ehemalige Deportierte an die Verbrechen des Unternehmensvorgängers „Deutsche Reichsbahn“ erinnern wollen, teilt das Ordnungsamt der Stadt Nürnberg mit. Weiter heißt es in dem Auflagenbescheid, er sei erlassen worden, um einer „unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ durch die Deportierten zuvorzukommen. Gegen den Bescheid gehen die Organisatoren seit Mittwoch mit einem Eilantrag beim zuständigen Verwaltungsgericht vor.
Marginalisieren
Der offensichtliche Versuch, die Forderungen der überlebenden „Reichsbahn“-Opfer zu marginalisieren, gilt einem Elitenschauspiel. Für den Festakt am 7. Dezember werden mehrere Straßenzüge gesperrt, überdacht und mit beheizten Event-Zelten ausgestattet. Im Innern halten DB und Bundesregierung kulinarische Köstlichkeiten aus verschiedenen Perioden der Bahngeschichte bereit. Die der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Gehwege versieht das Unternehmen mit nachgebildeten Schienensträngen. Sie führen vom DB-Museum, das eine NS-Lok mit Nazischmuck bewirbt („Glanzlicht der Eisenbahngeschichte“), in das Nürnberger Schauspielhaus. Dort wird eine „Show mit Luftakrobatik“ stattfinden. Die Kosten der zweitätigen DB Feiern werden auf mehrere Millionen Euro veranschlagt. Den osteuropäischen Überlebenden der „Reichsbahn“-Deportationen hat die DB einen einmaligen Betrag im Wert von je 25 Euro angeboten.
Erben
Opferorganisationen aus der Ukraine, Weißrussland, Russland, Moldawien, Bulgarien und anderen Ländern nennen die „humanitäre Geste“ der DB AG beleidigend. Man werde die Almosen nicht annehmen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der „internationalen Verbände minderjähriger Gefangener des Faschismus“. Verlangt wird eine umfassende Unterstützung der sozial und gesundheitlich Bedürftigen, denen die Erben des kriminellen „Reichsbahn“-Unternehmens bis heute jegliche Entschädigungen verweigern.
Relativismus
Laut Bahnchef Grube handelt es sich bei der „Reichsbahn“-Beihilfe zu den NS-Massenmorden nur um eine „Schattenseite“ der ansonsten hellen Geschichte der deutschen Eisenbahnen. Die verniedlichende Darstellung des größten bekannten Menschheitsverbrechens überbietet Grube in der neuesten Ausgabe der Bahnzeitschrift „mobil“. Das Blatt, das in sämtlichen deutschen Fernzügen ausliegt, bringt einen mehrseitigen „Gedankenaustausch“ zwischen der Kanzlerin und Bahnchef Grube zu den Feierlichkeiten am 7. Dezember. Nachdem Grube die „bedeutendsten Ereignisse in der deutschen Eisenbahngeschichte“ gewürdigt hat, kommt er auf „negative Einschnitte“ zu sprechen. Dabei handele es sich um „die beiden Weltkriege“ und „die unrühmliche Rolle, die die Eisenbahn darin gespielt hat“. Die Massendeportationen der Reichsbahn, die lange vor Beginn des Zweiten Weltkrieges begannen und mit den Kriegsereignissen in keiner unmittelbaren Beziehung stehen, kommen bei Grube nicht vor. Wie bereits bei den „Schattenseiten“ handelt es sich um verniedlichende und relativierende Äußerungen. Trotz dieser Inhalte haben sowohl die Presseabteilung des Bundeskanzleramts wie auch die Öffentlichkeitsabteilung der DB AG den „Gedankenaustausch“ freigegeben.
Boykott
Die lokale SPD wie auch Bündnis 90/Die Grünen in Nürnberg boykottieren die Kundgebung für die „Reichsbahn“-Opfer. Der regionale SPD-Bundestagsabgeordnete Martin Burkert ist zugleich Mitglied eines DB-Aufsichtsrats und stellvertretendes Mitglied eines DB-Verwaltungsrats. Bei der Nürnberger DB beschäftigte Personen, die zugleich einflussreiche Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen sind, haben eine positive Mitgliederentscheidung gekippt und den Boykott der Proteste gegen ihren Arbeitgeber erwirkt.