Feuerwehr durfte nicht löschen
Einige Tage nach der Ausweisung seiner Eltern im Rahmen der „Polen-Aktion“ erschoß der 17jährige Herschel Feibel Grynszpan aus Verzweiflung darüber am 7. November 1938 einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris. Das Attentat nahmen die Nationalsozialisten bekanntermaßen zum Anlaß, um die Pogrome vom 7. bis 13. November 1938 gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland zu initiieren.
Erste gegen die jüdische Minderheit gerichtete Ausschreitungen im Zuge der so genannten „November-pogrome“ gab es bereits am Abend des 7. November 1938 mit Bekanntwerden des Attentats. In Kassel konnte an diesem Abend letztlich nur durch das beherzte Vorgehen eines Feuerwehrmannes das vollständige Abbrennen der Synagoge verhindert werden. Bereits am 8. November wurde die Synagoge in Bad Hersfeld – als eine der ersten in Nazi-Deutschland – in Brand gesetzt. Am gleichen Abend brannte auch die Synagoge in der Gelsenkirchener Altstadt. 1949 fand ein Strafprozeß vor dem Essener Schwurgericht gegen den mut-maßlichen Brandstifter Werner Karl Montel statt. In der Strafprozeßakte wird in den Zeugenaussagen durchweg von einer Inbrandsetzung der Gelsenkirchener Synagoge am Abend des 8. November 1938 gesprochen, ebenso im Urteil. Auch in so genannten „Wiedergutmachungsakten“ aus der zweiten Hälfte der 1940er Jahre findet sich dieses Datum als Zeitpunkt der Inbrandsetzung der Gelsenkirchener Synagoge in der Altstadt.
Der Höhepunkt der reichsweiten Ausschreitungen fand in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 statt, im kollektiven Gedächnis auch „Reichskristallnacht“ oder „Reichspogromnacht“ genannt. „Reichspogromnacht“ wiederum ist eine nach 1945 konstruierte Bezeichnung im Nazi-Jargon, und deshalb vollkommen unmöglich: Bei den Nazis wurde alles, was erhöht sein sollte, mit dem Zusatz „Reich“ versehen. Pogromwoche bzw. Novemberpogrome sind daher die geeigneteren Bezeichnungen. In dieser Nacht wurden Synagogen, Bet- und Versammlungsräume in ganzen Reichsgebiet in Brand gesetzt und Geschäfte jüdischer Eigentümer verwüstet.
Bei den Pogromen wurden im November 1938 hunderte Menschen ermordet oder in den Tod getrieben. Hinzu kam eine unbekannte Zahl von Vergewaltigungen jüdischer Frauen. Wieviele jüdische Menschen später an den Folgen der erlittenen Misshandlungen und den Haftfolgen starben, ist ebenso wie die Zahl der Suizide in der unmittelbaren Folgezeit der Pogrome nicht sicher bekannt. Neuere Recherchen nennen 131 Menschen auf dem gebiet des heutigen NRW, die aufgrund der Novemberpogrome ihr Leben verloren haben.
Die Zerstörungen wurden am 10. November teilweise noch fortgesetzt, so erschien in Gelsenkirchen Lehrer Honroth mit einer Gruppe von Oberschülern an der Bahnhofstraße Ecke Klosterstraße und vollendete mit den Schülern das Zerstörungswerk der vergangenen Nacht am Pelzgeschäft der Familie Gompertz.
Synagogenbrand: „Das Ding wollte nicht mal brennen!“
Schreinermeister Johann Blume aus Rotthausen bei seiner Vernehmung im Ermittlungsverfahren gegen den mutmaßlichen Brandstifter der Gelsenkirchener Synagoge in der Altstadt, Werner Montel: „SS-Untersturm-führer Anton Thurau hat kurz nach dem Synagogenbrand im angeheiterten Zustand mir gegenüber gesagt: „Das Ding wollte nicht mal brennen!“
Brandstiftung: Angeklagter mangels Beweisen freigesprochen
Am 3. Oktober 1946 bat das Jüdische Hilfskomitee den Oberstaatsanwalt des Landgerichtes Essen wegen der im November 1938 erfolgten Niederbrennung der Synagoge in Gelsenkirchen ein Verfahren gegen Unbekannt einzuleiten. Aufgrund vielfältiger Hinweise wurde der bereits zweimalig vorbestrafte Gelsen-kirchener Kaufmann Werner Karl Montel der Brandstiftung angeklagt. In der Anklageschrift hieß es: Montel wird beschuldigt „zu Gelsenkirchen in der Nacht zum 9. November 1938 durch eine und dieselbe Handlung gemeinschaftlich mit nicht ermittelten Mittätern
a.) vorsätzlich ein zu gottesdienstlichen Versammlungen bestimmtes Gebäude in Brand gesetzt,
b.) ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Verfolgung aus rassischen Gründen begangen zu haben.“
Aus dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Essen ergibt sich der mutmaßliche Tathergang: „Am Abend des 8. November 1938 erhielten durch die Gestapo die Formationen der SA, SS und NSKK den Befehl zu den bekannten, gegen Juden gerichteten Ausschreitungen, die mit der Anzündung der Synagoge begannen. Es geschah dieses etwa gegen 10 u. 10.30 Uhr abends. (22.00 – 22.30) Die noch verfügbaren Mitglieder dieser Verbände marschierten zur Synagoge, bewaffnet mit Beilen und sonstigen Utensilien.
SA-Führer (Sturmbannführer) Heinrich Orzechowski (spätere Namensänderung in Nußdörfer) zertrümmert mit einem Beil die Tür der Synagoge. Zeitgleich erschien ein Kraftwagen, der in der Nähe des Restaurants Herberg (Cafe Roland) hielt, gab einen Benzinbehälter heraus, der Wagen wurde gesteuert von dem SA-Oberscharführer Jedaschko, aus Gelsenkirchen-Rotthausen, Schonebeckerstraße, neben ihm befand sich ein SS-Mann, der Benzinbehälter wurde ebenfalls einigen SS-Leuten übergeben. Orzechowski soll Altardecken aus der Synagoge geholt und diese mit Benzin übergossen und auf der Straße angezündet haben. Dann fuhr noch ein weiterer Wagen vor, der Holzwolle ablud. Die Holzwolle wurde unter die Bänke der Synagoge verteilt und der genannte Brennstoff darüber gegossen. Kurze Zeit darauf stand das Gotteshaus in Flammen. Die Verbände sammelten sich dann vor der Synagoge und sangen antisemitische Lieder, bis gegen Morgen die weiteren Aktionen gegen die Geschäfte und Wohnungen folgten.“
Der am 10. April 1913 in Bochum geborene Montel war seit Februar 1931 Mitglied des NS-Schülerbundes; nach der Auflösung des Schülerbundes im September 1932 ist er keiner anderen Organisation beigetreten. Vom 24- August 1933 bis 1934 war der Beschuldigte Parteianwärter, von 1934 bis April 1942 Parteimitglied der NSDAP. Seine Einstellung jüdischen Staatsangehörigen gegenüber führte Montel wie folgt aus: „Mein reger Verkehr mit Halbariern war stadtbekannt. Bei den Judenaktionen am 8. u. 9. Nov. 1938 konnte ich verhindern, dass es bei den in unserem Hause wohnhaften Juden ohne die geringsten Ausschreitungen blieb. Ich nehme an, dass dieses der einzige Fall in Gelsenkirchen blieb.“ Nach eigener Aussage war Montel „selbst (…) an dem fraglichen Abend und den skizzierten Aktionen aktiv nicht beteiligt, ja nicht einmal als Zuschauer, so dass ich also praktisch am Tatort keineswegs gesehen worden sein kann.“
Einem (vorläufigen) Schlussbericht der Kriminalpolizei Gelsenkirchen vom 24. Februar 1947 ist zu entneh-men: „Die angestellten Ermittlungen nach den Tätern des Synagogenbrandes sind bisher ergebnislos verlaufen. Sämtliche dazu vernommenen Personen können keine Angaben über die mutmaßlichen Täter machen. Wie aus den Vernehmungen zu ersehen ist, sind die Täter in den Kreisen der SS und SA zu suchen.“ Das im Januar 1949 ergangene Urteil sprach Montel auf Kosten der Staatskasse frei, da die Beweisauf-nahme „trotz des starken Verdachts keine hinreichenden Nachweise für die Beteiligung des Angeklagten“ ergeben hatte. Dieser Prozeß war der einzige Versuch, den Synagogenbrand in der Gelsenkirchener Altstadt strafrechtlich aufzuarbeiten und den bzw. die Täter zu bestrafen.
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