Pogromwoche 1938: Erinnerung an ein öffentliches Verbrechen

Vor 80 Jahren: Die Pogromwoche im November 1938 – Antijüdischer Terror

Einige Tage nach der Ausweisung seiner Eltern im Rahmen der so genannten „Polenaktion“ erschoß der erst 17jährige polnische Jude Herschel Feibel Grynszpan aus Verzweiflung darüber am 7. November 1938 einen Nazi-Diplomaten der deutschen Botschaft in Paris. Diese Tat nahmen die deutschen Faschisten bekannter- massen zum Anlass, um die Pogrome 7. bis 16. November 1938 gegen die jüdische Bevölkerung in Deutsch- land zu initiieren.

Vor achtzig Jahren sind in fast allen deutschen Städten Synagogen und jüdische Einrichtungen durch Inbrandsetzungen in Flammen aufgegangen. In arbeitsteiliger Zusammenarbeit zwischen Ordnungs-, Sicherheits- und Kriminalpolizei, SS, Organisationen der NSDAP sowie der Feuerwehr wurde ein „kontro- lliertes“ Abbrennen der Synagogen sichergestellt und gewährleistet, dass die Flammen nicht auf „arisches“ Eigentum übergriffen. Hinzu kommen unzählige verwüstete Wohnungen jüdischer Mitbürger, zerstörte Altersheime und Friedhöfe. Nach bisherigen Schätzungen wurden durch die Pogromwoche zwischen 400 und 1.300 jüdische Menschen getötet oder in den Suizid getrieben.

Nazi-Schergen vergießen eine brennbare Flüssigkeit, um eine Synagoge in Brand zu setzen.

Ein jüngst aufgetauchtes Fotoalbum aus einem Nachlass dokumentiert Zerstörung und Gewalt, gerichtet gegen Leib und Leben jüdischer Menschen in der Pogromwoche im Novemeber 1938 in Fürth. In einzeln Sequenzen auch ist die Inbrandsetzung der Fürther Synagoge festgehalten, andere Aufnahmen zeigen misshandelte und verletzte Menschen, die ihren Peinigern völlig schutzlos ausgeliefert sind. Die bisher unveröffentlichen Fotografien zeigen exemplarisch mit großer Eindringlichkeit, mit welcher menschenver- achtender Bestialität die Nazi-Schergen ihre Schandtaten begehen. Schockierend, das so oft Gehörte und Gelesene auf diesen Fotos zu sehen: Zum Fotoalbum Pogromwoche November 1938

Wer bisher geglaubt hat, das Pogrom habe erst in den späten Abendstunden des 9. November 1938 begon- nen, hat Grund zur Änderung dieser Auffassung. Erste gegen jüdische Deutsche gerichtete Ausschreitungen gab es bereits am Abend des 7. November mit Bekanntwerden des Attentats von Paris beispielsweise in Kassel. Am 8. November wurde die Synagogen in Bad Hersfeld und Gelsenkirchen (Altstadt) in Brand gesetzt, am Abend des 8. November starb das erste jüdische Pogromopfer: In Felsberg südlich von Kassel starb Robert Weinstein an den Folgen der Misshandlung. Auch ließen sich die einmal entfesselte Gewalt und der landesweit agierende Mob nur mit Mühe wieder bändigen: Trotz des offiziellen Stopps, der am Nachmit- tag des 10. November per Rundfunkappellen verbreitet und am 11. November in Zeitungen erneut veröffent- licht wurde, gingen die Angriffe, Plünderungen und Verhaftungen teilweise noch tagelang weiter. Keine Frage, für die meisten Juden war der Einbruch der brachialen Gewalt kurz vor Mitternacht des 9., meist aber erst im Laufe des 10. November, die zentrale Erfahrung.

Doch von einer Pogromnacht zu sprechen, ist eine offenkundige Bagatellisierung der tatsächlichen Ent- wicklung – hätte es nur die Nacht vom 9. auf den 10. November gegeben, hätten viele Juden jedenfalls diese Tage und Wochen überlebt. Deshalb sollte diese Bezeichnung, die das ganze Pogrom von seinen Anfängen am 7. November bis zu seinen Ausläufern um den 16. November (Ende der Verhaftungswelle) narrativ-dramaturgisch wirksam auf eine Nacht gleichsam miniaturisiert, tunlichst ins gut gefüllte, aber leider noch nicht geschriebene „Wörterbuch der Verharmlosung des Nationalsozialismus“ einsortiert werden. Die Pogromwoche war ein öffentliches Verbrechen, in juristischen Begriffen ausgedrückt: Mord und Totschlag, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl, Erpressung und Nötigung, Sachbeschädigung, Vergewal- tigung. Noch nicht geplanter Völkermord, aber weit mehr als bloß lokaler Pogrom, war es eine staatlich inszenierte, reichsweite, bis dato singuläre Gewalt- und Terrorwelle, der über tausend Menschen zum Opfer fielen und in der ein Großteil der soziokulturellen Infrastruktur jüdischen Lebens zerstört wurde.

Bezüglich der Inbrandsetzung der Gelsenkirchener Synagoge in der Altstadt gab es nach 1945 ein Straf- verfahren gegen den mutmaßlichen Brandstifter der hiesigen Synagoge in der Altstadt, Werner Montel. Das Jüdische Hilfskomitee Gelsenkirchen hatte mit Datum 3. Oktober 1946 die Staatsanwaltschaft Essen schriftlich um die Einleitung eines Verfahrens “ (…) wegen der in der Nacht vom 8. zum 9. November 1938 erfolgten Niederbrennung der Synagoge in Gelsenkirchen, Neustrasse.“ gebeten. Liest man sich die Straf- prozeßakte durch, lässt sich feststellen, dass auch in den Zeugenaussagen durchweg von einer Inbrand- setzung der Gelsenkirchener Synagoge gegen 22.30 Uhr am 8. November 1938 gesprochen wird, ebenso in der Anklage- schrift und im Urteil. Auch in so genannten „Wiedergutmachungsakten“ findet sich dieses Datum. Es darf folglich davon ausgegangen werden, das auch in Gelsenkirchen bereits am Abend des 8. November in vorauseilendem Gehorsam die Synagoge in der Altstadt in Brand gesetzt worden ist.

Ein Stapel hebräischer Gebetbücher und anderer jüdischer religiöser Texte, die in der Synagoge in Bobenhausen (Vogelsbergkreis) während der Pogromwoche im November 1938 durch Feuer beschädigt wurden. Foto: USHMM, Photograph Number: N00445

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