Schicksal im Stein

WAZ schreibt am 17.06.2008:

Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegte schon
über 15 000 Stolpersteine in Deutschland, um direkt vor ihrem Haus an die Menschen zu erinnern, die den Nationalsozialismus nicht überleben sollten

Münster. Er sagt einfach nichts. Trägt seinen Filzhut tief ins Gesicht gezogen, einen Knieschoner am rechten Bein und wirkt in dem weit geöffneten Jeanshemd beinahe wie ein Handwerker. So wie er da auf dem Bürgersteig mit Kelle, Boschhammer und Zement hantiert, ohnehin. Wären da nicht die Jugendlichen um ihn herum, die rote Rosen in den Händen halten und konzentriert, ja, durchaus andächtig einem ihrer Klassenkameraden zuhören, der aus einem Brief vorliest: „Lieber Paul, wir sind etwa so alt wie Du, als Du sterben musstest. . .“

Gunter Demnig, der Mann auf dem Bürgersteig, er schweigt und macht seine Arbeit. Wie oft hat er solch eine Szene schon erlebt! Er, da unten am Boden, Steine klopfend, ein zehn mal zehn Zentimeter großes Loch aushebend, um zum Schluss, bevor er den Stolperstein einzementieren wird, dessen metallische Oberfläche noch einmal mit dem Ärmel seines Hemdes zu polieren. 15 200 solcher Stolpersteine hat er schon verlegt, Gedenksteine also für Opfer des Nationalsozialismus, für Deportierte, Ermordete, in Flucht oder Selbstmord Getriebene.

Messingglänzend liegen sie zwischen Bürgersteinplatten, unauffällig, leicht zu übersehen. Und doch, wer von ihnen weiß, wer auf sie achtet, stolpert dann und wann über sie. In Münster, in Essen, in Hamburg wie in Berlin und in der Provinz: „Hier lebte. . ., Hier wohnte. . ., Hier wirkte. . .“. Ein Name. Ein Geburtsjahr. Ein Schicksal, gekennzeichnet durch das Datum der Deportation, des Todes, etwa in einem der Konzentrationslager. 15 200 Steine, und es mögen noch ein paar mehr sein.

Und der Mann, der so aussieht wie ein Handwerker, aber ein Künstler ist, er hat sie erfunden, sie haben sich ihm quasi auf den Weg gelegt, haben sich als Idee in seinem Kopf festgesetzt, haben ihn politischen Widerstand brechen lassen, bis man überall im Land, von Nord bis nach Süd, auf diese Art erinnern wollte.

Dass der Mann auch reden kann, und zwar durchaus leidenschaftlich, erfahren wir zwischen zwei Stein-Verlegungen, es sind die fünfte und sechste an diesem Tag. Den Filzhut hat er abgelegt, gönnt sich nach getaner Arbeit einen Teller Fisch und Bratkartoffeln in Münsters Traditionskneipe Pinkus Müller und erzählt. . . Von sich als jungem Künstler in seiner Heimatstadt Berlin, wo er 1970 mit Totenköpfen anstelle von Sternen auf einer US-Flagge gegen den Vietnam-Krieg anmalte. Von seinen ersten Versuchen, mit Schrift eine Spur zu legen, in dem Fall – es war 1980 – quer über den Asphalt von der Kunstakademie Kassel zum noch jungen Pariser Centre Pompidou. „Wann bist Du ein Künstler?“ war die Frage, mit der sich der damals 33-jährige Absolvent der Akademie gerade intensiv auseinandersetzte.

1985, da hat Gunter Demnig in Köln bereits ein eigenes Atelier, bedruckt er einen 16 Kilometer langen Weg bis zur Deutzer Messe mit einem Schriftzug, der auf die Deportation von 1000 Sinti und Roma von dort aus aufmerksam machte. „Es war in der Südstadt, als eine Frau plötzlich zu mir sagte ‚Guter Mann, hier haben keine Zigeuner gelebt!‘ und mir wurde klar, dass kaum jemand von ihnen wusste. Die Sinti waren katholisch, lebten assimiliert nebenan“, erinnert sich der heute 60-Jährige.

In diesem Moment war die Idee geboren, „die Namen wieder dahin zurück zu bringen, wo die Leute gewohnt haben“. Der Weg dorthin, er war steinig. Nicht nur wegen der vielen Ämter, die involviert waren. 1996 in Berlin beteiligte sich Demnig an der Ausstellung „Künstler forschen nach Auschwitz“ und befand „nach ein paar Bier“: „Wir machen das jetzt einfach!“ Einen Tag nur benötigte er, um 50 Steine in die Berliner Oranienstraße einzubetten, wo einst viele Juden wohnten. Demnig: „Erst Monate später, bei Bauarbeiten, fielen der Verwaltung die Steine auf. Da waren sie schon als Denkmale akzeptiert.“

Sie sind Erinnerung. Sie sind sehr konkret, weil sie zeigen, nicht irgendwo in dieser Stadt lebten Juden, Homosexuelle, Widerständler, sondern genau hier. In dieser Straße, in diesem Haus. Ein Blick entlang der Fassade, der Name am Boden. 70 Jahre. So lang ist das nicht. Paul, der Junge aus der Straße An den Bleichen in Münster, war 16 Jahre alt, als er im Ghetto von Riga umgebracht wurde.

Kürzlich, es war bei einer Verlegung in Freiburg, da kam ein Enkel aus Israel angereist, was häufiger passiert. Der sagte zu Gunter Demnig anschließend: „Wir wissen nicht einmal wie er aussah! Es gibt keine Fotos.“ Wenig später, erzählt der Künstler, sei ein Mann aus dem Haus gekommen, habe ein Fotoalbum aufgeschlagen und gesagt: „So sah er aus. Er war mein Klassenkamerad.“ In solchen Momenten, sagt Demnig, „weiß ich, warum ich das mache!“.

WAZ. Artikel von Hayke Lanwert

Aktionsgemeinschaft Stolpersteine Dorsten – Verlegung von Stolpersteinen für das Ehepaar Reifeisen.
Bericht und Fotos auf GELSENZENTRUM

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